#zukunftsbühne

Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.

Von Jesper Klein, 08.04.2019

Ich bin Castor

Riesengroß waren die Erwartungen an das neue Musiktheater „Castor&&Pollux“ des Heidelberger Frühlings. Hier geht es um die ganz großen Themen der Menschheit, um Zukunft und Unsterblichkeit. Doch das Ergebnis ist ausbaufähig. Eindrücke von der Premiere.

Castor hier, Pollux dort. Beim Heidelberger Frühling kreist dieses Jahr alles um ein Thema: das neue multimediale Musiktheater „Castor&&Pollux“. Auch niusic widmete ihm eine Themenreihe. Warum redet eigentlich jeder über diese Uraufführung? (Und nicht etwa über die von David Philip Heftis Flötenkonzert „Media nox“ oder die Deutsche Erstaufführung von Thierry Pecous „Outre-mémoire“, einem Werk über die Geschichte des Sklavenhandels?). Die Antwort: Weil diese Produktion zum einen medienwirksamer ist und zum anderen hohe Erwartungen weckt.

#zukunftsbühne

Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.

Die Erwartung liegt auch am Premierenabend in der Luft. Eine rote Kordel verhindert, dass das Publikum zu früh in die Alte Aula hereinspaziert, in der das 4D-Soundsystem wartet, von dem niemand so genau weiß, wie es eigentlich funktioniert. Wer einen mobilen Sitzplatz im Inneren ergattern konnte, nimmt auf einer der Holzinstallationen Platz, bereit zur Erkundung des Raumes. Wer außen sitzt, bewegt sich besser gar nicht – da knirschen nur die Holzbänke. Ich sitze innen.

Die verschiedenen Blickwinkel sind recht schnell erkundet.

Das Licht geht aus, die Türen zu. Castor spricht: „Ich bin Castor.“ Diese drei banalen Worte holen das Konzept mit seinem immensen Vorlauf zum ersten Mal auf den Boden. Es folgt die Geschichte der Zwillingsbrüder Castor und Pollux, dann mit der Ouvertüre von Jean-Philippe Rameaus Oper die erste musikalische Einlage. Die Videoscreens entführen in Bergwelten. Ich frage mich, wann ich eigentlich von meinem mobilen Sitzplatz Gebrauch machen darf und stehe schließlich auf, weil Menschen aufstehen, die offensichtlich wissen, wann man in diesem Stück aufstehen darf. Die verschiedenen Blickwinkel sind jedoch recht schnell erkundet, und auf den sechs Bildschirmen läuft meist dasselbe: Gerade ist es eine Abendmahlszene, dann ein Boxkampf. Das ist optisch ansprechend und auch ganz witzig, aber mehr Kino als Musiktheater. Ich setze mich wieder.

Barockmusik vor Bergpanorama

„Castor&&Pollux“ bewegt sich im Spannungsfeld zwischen antikem Mythos und Zukunftstheorien. Außerdem treffen Kunst und Wissenschaft aufeinander, genauso wie Barockmusik und Elektronik. Jim Igor Kallenberg, Lisa Charlotte Friederich und Lukas Rehm haben versucht, im Raum zwischen diesen Polen ein schlüssiges Musiktheater zu erschaffen. In diesem Stück wird man von Ideen und Theorien schier erschlagen. Umso ernüchternder ist es zu sehen, wie ein Projekt, das sich die ganz großen Fragen der Menschheit auf die Fahnen schreibt, an so banalen Dingen krankt wie merkwürdigen Kostümen oder einer mit der Intonation kämpfenden Naturtrompete. Auch das Sängerensemble und die Rossetti Players hinterlassen einen gemischten Eindruck.

Mut zum Risiko

Was zieht man nun aus dieser Produktion? In erster Linie sind es Fragen. Reicht es aus, mit Musiktheater einen wichtigen Diskurs zu eröffnen? Und wie viele Makel verzeiht man einem Projekt, das aus einem Kreativlabor kommt, in dem das Erkunden neuer Wege ausdrücklich erwünscht ist? Braucht es solche Projekte häufiger, und was müsste man ändern? Ich gehe mit gemischten Eindrücken aus dieser Premiere. Musiktheater sollte nicht vor den großen Fragen der Menschheit kapitulieren, bloß weil sie zu sperrig sind oder zu komplex, zu unsexy oder zu schwer vermittelbar. Wie ist es überhaupt möglich, die uns fremden, kaum fassbaren Theorien von Ray Kurzweil im Musiktheater zu verhandeln?

Man sollte dem Heidelberger Frühling den Mut für dieses Projekt anrechnen.

Vielleicht ist es ein erster Schritt, dem Musiktheater solche Experimente zuzugestehen. Projekte zu erlauben, die anders sind und Risiken eingehen. Bei denen man fluchend die Hände zusammenschlagen kann. Bei denen man sagen darf, dass man das von vorne bis hinten einfach nicht verstanden hat. Man sollte dem Heidelberger Frühling den Mut für dieses Projekt anrechnen. Denn: Selbst, wenn nicht alles funktioniert hat, wünscht man sich doch ein nächstes Mal. Über die Ausführung könnte man da ja nochmal reden.

© Heidelberger Frühling/studio visuell


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