#zukunftsbühne
Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.
Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.
Heidelberg, Mitte April 2017: Die Sonne scheint und brutzelt bei 26 Grad im Schatten, sie macht den Tag zum wärmsten des ganzen Monats. Die Umstände sind perfekt für das erste Treffen des sogenannten „LAB“ des Heidelberger Frühlings, denn so können sich die zehn Stipendiat:innen unweit des Schlosses auf einer Wiese in einen Kreis setzen, fast wie im Freibad oder bei Lagerfeuer, zwanglos und Open Air. Dabei haben sie (unter anderem) 15 Besenstiele und A2-Pappbögen, Eddings in mehreren Farben, Kameras, Kisten, viel, viel Papier, Pfeifenreiniger und Lego. Und machen die Wiese nach und nach zu einer echten kleinen Spielwiese.
Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.
Auf dieser nun sollte eine Reformation zu keimen beginnen. Das war zumindest der Plan von Festivalintendant Thorsten Schmidt, als er die Idee für das LAB entwickelte: diese paar Querköpfe vier Tage lang über die Zukunft des Konzert- und Kulturbetriebs streiten lassen, und aus ihren Ergebnissen, Ideen, Pamphleten Alternativen für den „Frühling“ entwickeln. Denn, ja, es gebe die Akademien (Lied, Kammermusik, Musikjournalismus) als Herz des Festivals, sagt Schmidt am Telefon, allein die interdisziplinäre Zusammenarbeit unter ihnen, wie sie ursprünglich beabsichtigt war, die finde nicht statt. Es war dieser Frust über die Gesamtakademie, sagt er, und dazu die Diskussion mit Kontra gebenden Teilnehmer:innen, aus der am Ende, in späterer Konsequenz, dieses Treffen auf der Wiese entstand. Das LAB sollte einlösen, was als Versprechen des „Heidelberger Frühlings“ noch leer im Raum stand.
Soweit der Rückblick. Zwei Jahre später findet man auf der Webseite des Festivals die Ankündigung zu einem Musiktheater mit dem Titel „Castor&&Pollux“, die irgendwie mehr zu sein scheint als einfach nur eine Oper wie all die anderen. Aus einer Vielzahl von mitunter kryptischen Texten, Handlungsnacherzählungen und daraus abgeleiteten Zukunftsphilosophien, eingebettet in ein schickes bildlastiges Design, lässt sich nicht so richtig schließen, was es mit dem Projekt nun konkret auf sich hat. Aber es drängt sich ein Gedanke auf: Das hier ist ein Zwischenergebnis. Das, was auf dem Display stehen bleibt, wenn mitten in einer Geschichte auf „Pause“ gedrückt wird. Ein Schlaglicht. Es ist maximal der kreisrunde Ausschnitt einer Landschaft, die man durch ein Fernrohr sieht. Was ist passiert?
Die Idee war eine von zweien, die im LAB 2017 entstanden, erinnert sich Andrea Thilo, die die Zusammenkunft damals anleitete. „Castor&&Pollux“ hat es jetzt tatsächlich bis kurz vor seine Umsetzung, die große Premiere, geschafft. Geplant sei das alles so nicht gewesen, sagt Thilo, doch das sei eben so bei Kreativprozessen. Allein Thorsten Schmidt kämpft ein bisschen mit sich: „Bei den Ausmaßen dieses Projekts wird mir noch immer Angst und Bange“, gesteht er im März. Das hat er nun davon, zehn Querköpfe und Andrea Thilo ergebnisoffen in seinen Garten gelassen zu haben. Anhand eines Musiktheaters wird nun – vielleicht, weil es noch nicht anders geht – in abstrahierter Form das Ergebnis des LAB-Denkprozesses gezeigt: die Idee einer Reformation des Kulturbetriebs, der Kunst, des kunstschaffenden Menschen und seiner Sehnsüchte.
Die Frage, ob man für die Konzeption und Umsetzung dieses Musiktheaters wirklich Besenstiele, Sonne und Lego auf einer Wiese gebraucht hätte, stellt sich leicht. Und wäre das Ziel des Treffens gewesen, Jean-Philippe Rameaus Oper „Castor und Pollux“ zu inszenieren, könnte man durchaus sagen: Naja, vielleicht nicht unbedingt.
Doch ist die Idee zu „Castor&&Pollux“ ja erst durch die Besenstiel-Sonne-und-Lego-Situation entstanden. Das Ergebnis ist so abgehoben-kreativ, dass man als Außenstehende dazu neigt, es nicht auf Anhieb nachvollziehen zu können. In den vier durchaus minutiös durchgeplanten Tagen auf der Wiese (inklusive Meditation, Atemübungen und Pausen) sind offenbar Ideen entstanden, die wohl in keinem anderen Kontext hätten entstehen können. Dabei hat sich die Kreativität anscheinend potenziert, indem unterschiedliche Menschen miteinander denselben gedankenwolkigen Prozess eingingen.
Bei solchen künstlerischen Arbeiten in der Gruppe, von denen Andrea Thilo mittlerweile einige angeleitet hat, hänge im Grunde alles an der richtigen Atmosphäre, damit Kreativität entstehe, sagt sie: vertrauensvoll und offen, mit klaren Zeitfenstern, in einem geeigneten Raum und erst einmal ohne äußerliche Hemmnisse. Denken, als hätte man alles Geld, allen Platz und alle Zeit der Welt. Also Spannung raus und fließen lassen? Der „Reality-Check“ im Gespräch mit Thorsten Schmidt, der Festivalverwaltung oder auch mit Menschen in der Fußgängerzone kam ohnehin früh genug.
Es ist, wie die Kreativitätsforscherin Simone Mahrenholz schreibt, das Zulassen der Gleichzeitigkeit von entweder-oder und sowohl-als-auch, das Kreativität bedeute, also: das Zulassen von Gegensätzen, ohne sie in die gelernten Kategorien einzuordnen. „Kreativität findet statt, wenn gleichzeitig eine Ordnung und die Aufhebung dieser Ordnung stattfindet“, schreibt sie – wenn also anstelle einseitiger, kausaler Zusammenhänge eine andere Idee gesetzt werde: die einer im Gegenteil komplexen Interaktion zwischen Menschen.
Im LAB also: Alle 30 bis 60 Minuten eine neue Form des Austauschs, pitchen, Kleingruppenarbeit, Fremde ansprechen, diskutieren, priorisieren, von vorne. Im Grunde, schreibt Mahrenholz, sei Kreativität aber etwas, das omnipräsent und „nur mit großem Aufwand zu unterdrücken“ sei – eine in der Kreativitätsforschung des Jahres 2011 durchaus neue These.
Simone Mahrenholz
Es ist scheinbar tatsächlich die größere Leistung, Kreativität unterm Deckel zu halten als sie hervorzubringen. Wenn Andrea Thilo die Arbeit im LAB als „beglückend“ beschreibt, wenn sie sagt, im Grund habe sie nur das Streichholz hingehalten und es habe sofort angefangen zu brennen – „ein Ankurbeln der Kreativität war gar nicht nötig“ –, dann bestätigt das genau diese Theorie. Sonne, Wiese, Besenstiele, eine riesengroße Frage und viel Zeit, meditieren, diskutieren, mit Lego herumspielen – „die ‚energetische‘ Konsequenz dieses Ansatzes ist ein Moment der Entspannung, der De-Eskalation und der Inklusion von Alternativen“, schreibt Mahrenholz. „Es ist jenes Fließen, das uns alle mit Allem verbindet und das in Kunst, Wissenschaften und Alltagsleben jenes plötzliche und flüchtige Ineins von Erkenntnis und Bejahung des Seienden auslöst, um dessentwillen wir existieren.“
Oder anders: Was im Silicon Valley seit den 1950er Jahren praktiziert (und teilweise noch immer belächelt) wird, was Künstlerkollektive und Orchester wie das stegreif oder das Ensemble Resonanz für sich entdeckt haben, was Philippe Manoury mit seinem Konzept des „Thinkspiel“ schon seit Jahren umsetzt – es ist im Grunde nichts revolutionär Neues. Im Höher-Schneller-Weiter-Stärker-Besser dieser Jahre sind nur Muße und Utopien, Lego spielen und Rumspinnen aus Sicht mancher diskurs- und Arbeitswelt bestimmender Menschen (Politiker:innen, Intendant:innen, Lehrer:innen, Chefs …?) leider noch immer Zeitverschwendung. Ein Projekt wie „Castor&&Pollux“ zeigt im Grunde nur, wie sehr wir uns von der Selbstverständlichkeit des kreativen und interdisziplinären Arbeitens entfernt haben. Und vielleicht vermag es ja gerade deshalb den Blick für die Kunst und ihre Möglichkeiten neu zu öffnen – ob man nun auf Anhieb alles versteht oder nicht.