Seit über 30 Jahren dirigiert der 56-jährige Paavo Järvi nun schon Sibelius‘ sieben Sinfonien, hat sich herangetastet und einiges mit ihnen ausprobiert, mittlerweile kennt er sie in- und auswendig. Eine Gesamteinspielung mit ihm war also irgendwie an der Zeit, manche hätten sie wohl schon sehr viel früher erwartet. Für Järvi selbst war vor allem eine Entwicklung ausschlaggebend, das Projekt erst in diesen Jahren zu beginnen, wie er im Booklet schreibt: dass er sich nämlich zunehmend getraut habe, „der Musik ein eigenes Gepräge zu geben – fast, als würde sie einem irgendwie gehören“.
Und so entstand über fünf Jahre hinweg, zwischen 2012 und 2016, im Pariser Salle Pleyel und in der Philharmonie de Paris eine Interpretation dieser Sinfonien, die einerseits zwar intim und persönlich ist, andererseits aber musikalisch erstaunlich weitsichtig und über weite Strecken ein ungewöhnliches tiefenlastiges, erdiges Klangbild entwickelt. Vor allem interpretiert Järvi die Musik in diesen Aufnahmen vor dem Hintergrund ihres russischen Einflusses, für den der Komponist durchaus offen war, ähnlich wie es auch Gennadi Roschdestwenski in den 70er Jahren in seiner Einspielung mit dem Moscow Radio Symphony Orchestra tat (Melodiya) – mit großen Bögen und ein bisschen leisem Pathos, immer präsentem und selbstbewusstem tiefem Blech, vor allem aber scharf, rau, kantig, ein bisschen doppelbödig, ein bisschen schwermütig.
Järvi nun arbeitete mit dem Orchestre de Paris mit einem Ensemble zusammen, das anders als das RSO Moskau bis zu diesem Projekt keinerlei Sibelius-Tradition hatte, bei dem es also keine entsprechenden Spielgewohnheiten und Abläufe gab und das sich intuitiv auf die Musik einlassen konnte. Eine riesige Chance. Und tatsächlich hört man, wie sich die Musiker deutlich lustvoll in die massigen Klänge der unter Järvi durchaus zügigen 2. Sinfonie hineinlegen, und in der 1. oder 7. Sinfonie manches mehrfache Forte so massiv und breit klingen lassen, dass es fast schon ungestüm wirkt (und manchmal noch ein ganzes Stück forscher). Genauso folgen sie ihm aber auch in den introvertierten Passagen der 4. auf durchaus ambivalente Wege, wo er Brüche fein herausarbeitet, statt sie glättend zu übergehen, und das leise Verschwinden von Melodielinien als empfundene Unvollständigkeit einfach existieren lässt. So leicht, so selbstbewusst.
Wirklich kunstvoll wird die Interpretation aber an den Stellen, an denen sich deutlich mehr als nur zwei Stimmungen miteinander abwechseln, sich kreuzen und verweben, und die Interpret:in vor 1000 Entscheidungen gleichzeitig stellen. Beispielsweise entwickelt sich zu Beginn des 2. Satzes aus einer eigentlich leichtfüßigen Oboenkantilene eine sich etwas zombiehaft verselbstständigende, düster harmonisierte Sequenz, die immer tiefer hineinstrebt in den umrisslosen Klangbauch, und die man leicht als Stimmungs-Kontrast inszenieren könnte, was wohl auch jeder verstehen würde. Bei Järvi ist genau dieser etwas seltsam fremde Klang aber eben genau das nicht, sondern im Gegenteil eine konsequente, fast wertfreie Fortsetzung der unschuldigen Melodie-Idee, die, wie man sogleich spürt, von Anfang an aber auch nicht rein und unbeschwert war. So bekommen Sibelius´ manchmal schwer fassbare Mysteriösitäten bei Järvi gleichzeitig eine leise Magie. Es ist irre schwer, solche Nuancen, vor allem in einem Werk wie der 4. Sinfonie, nicht nur herauszuarbeiten, sondern sie auch zu balancieren – Järvi nennt es „hochinteressant“. Von der Sinfonie schreibt er als einem seiner „Lieblingswerke“ überhaupt: „Dieses Stück geht einem tagelang nach.“
Von den interpretatorischen Feinheiten einmal abgesehen macht diese Aufnahme aber auch deshalb großen Spaß, weil nicht nur Sibelius‘ Sinfonien, sondern genauso auch dem Pariser Orchester der rhythmisierte, blechige, tiefschürfend-erdige Klang wahnsinnig gut steht. Als hätten sie in den tiefen Registern nur darauf gewartet, endlich mal über ganze Werke hinweg als satte, kompromisslos allgegenwärtige Basis den Gesamtton bassbreit zu formen, zu sättigen, zu ankern. So einen Sound, vor allem im tiefen Blech, trauen sich nicht viele. Järvi hat seine Interpretation nicht nur an die oftmals vernachlässigten Stärken der Sinfonien, sondern definitiv auch an diejenigen des Orchesters angepasst – das jetzt tatsächlich als erstes französisches Orchester überhaupt diese Werke eingespielt hat.