#zukunftsbühne
Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.
Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.
Lukas Rehm sitzt im Soundstudio der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Zweieinhalb Wochen vor der Premiere von „Castor&&Pollux“ arbeitet er an der Ouvertüre und designt das Programmbuch. Das Gespräch dauert sehr lange, um Rehm wird es zunehmend dunkler. Trotz lockerem Umgangston ist es ihm wichtig, die Komplexität der Inhalte genau darzulegen. Für die Produktion von „Castor&&Pollux“ beim Musikfestival „Heidelberger Frühling“ stellt Rehm mit elektronischer Musik und Videokunst überkomplexe Strukturen und emotionale Klarheit gegenüber.
Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.
niusic: Wie können elektronische und klassische Musik voneinander profitieren?
Rehm: Die Unterschiede der beiden Genres machen ihre Qualitäten aus. In der Klassik präsentieren echte Menschen ihre Fähigkeiten live: Die Körper schwitzen, die Instrumente schwingen, all das ist im Raum präsent. Bei der Elektronik ist der Klang akusmatisch, seine Quelle lässt sich aus der Hörerfahrung nicht nachweisen.
niusic: Was passiert, wenn man diese beiden Musikstile vereint?
Rehm: Dann entsteht eine andere klangliche Dimension. Bei „Castor&&Pollux“ ist das Orchester an einem Punkt, die digitalen Klänge können aber durch das Raumklangsystem den gesamten Raum erschließen. Zusammen ergibt das dann so etwas wie einen Kuss oder eine Umarmung.
niusic: Und was kann dieser Klangkuss beim Hörer auslösen?
Rehm: Ich finde es kompliziert über Absichten zu reden, aber es gibt Momente, die mit musikalischer Antizipation spielen. Und dieser Bruch ist für mich spannend. Der Hörer kann nachvollziehen, wie das Verhältnis zwischen diesen zwei Qualitäten sein kann.
niusic: Ich finde es interessant, dass Du von Qualitäten sprichst und nicht von Musikstilen.
Rehm: Ja, bestimmte Bezugspunkte kann man nie wegdenken. Das Eine ist klassische Musik, die bekannt ist, das Andere sind unbekannte elektronische Klänge. Das bleibt immer erkennbar.
niusic: Du spielst also mit dem Bekannten und dem Neuen?
Rehm: Es gibt schon scharfe Trennungen. Mir war es wichtig, Rameau auch Rameau sein zu lassen, seine krassen Arien und Zwischenspiele. Von der ursprünglichen Oper sind ungefähr noch 50 Prozent erhalten.
niusic: Und welche 50 Prozent sind das?
Rehm: Die Hits. (lacht)
niusic: Du hast gerade von klanglichen Referenzen gesprochen. Kann es nicht sein, dass die Referenzen zwar existieren, man sie aber gar nicht wahrnimmt?
Rehm: Als ich mir für das Erstellen der Musik einen Orientierungspunkt gesucht habe, habe ich mir Überlieferungen aus der Zeit, in der das Narrativ von Castor und Pollux entstanden ist, angeschaut. Und dann alte, griechische Skalen als Basis verwendet für das Libretto, das aus der Maschine kommt, generiert durch künstliche Intelligenz. Diese Skalen liegen der Musik zugrunde, werden wahrscheinlich aber nicht vordergründig wahrgenommen.
niusic: Warum setzt Du Dich mit künstlicher Intelligenz auseinander?
Rehm: Herkömmliche Computer können sich wahnsinnig gut Sachen merken, aber schlecht lernen. Wir dagegen vergessen häufig, weil wir eben lernen können. Jetzt gibt es Computer, die lernen können, weil sie vergesslich sind. In der Rezeptionssituation der Musik, die durch künstliche Intelligenz entsteht, gibt es unterschiedliche Qualitäten: die körperliche oder die referenzielle, die nicht immer sichtbar ist. Dieses Wechselspiel, affektiv und kognitiv, ist das, was mich interessiert.
Eine Zeitreise durch die Elektronische Musik
Lukas Rehm
niusic: Wie komponierst Du?
Rehm: Ich arbeite selten mit Samples und fast nie mit Sänger*innen oder Instrumentalisten zusammen. In der „Castor&&Pollux“-Produktion ist das 4D-Soundsystem ausschlaggebend für meine Herangehensweise. Ich zeichne die Klänge, die im Raum entstehen, auf und nehme das unter die Lupe. Das ist eine komische Form von Reinheit. Dann geht es darum, spannende Situationen in dem Stück zu finden und die miteinander zu kombinieren. Dadurch entsteht etwas Neues.
niusic: Und wie sieht das aus, wenn Du den Raumklang unter die Lupe nimmst?
Rehm: Ich suche mir ein perkussives Muster, einen Klang oder eine Resonanz, die mich anspricht. Das kann auch mal zwei Stunden dauern. Dann entwickle ich die Begleitung dazu, indem ich mir beispielsweise einen Grundton herauspicke und über ihm dann die Melodien baue. Dabei lege ich verschiedene Layer übereinander, weil ich gerne mit Verdichtung arbeite. Dadurch wird der Klang sehr noisig oder flächig, das Ganze ist sehr laut, allumfassend präsent und meditativ. Ich erkenne dann darin bestimmte Muster, die ich herausschäle.
niusic: Das heißt, Du setzt erst verschiedene Klänge zusammen und kristallisierst schließlich wieder einzelne Fragmente heraus?
Rehm: Genau, ich suche etwas, das Kontur gibt wie ein Flugzeug, das durch Wolken schneidet. Aber letztendlich ist jeder einzelne Klang wie ein eigenes Instrument. Zum Schluss hat man quasi ein Orchester, das man selbst gebaut hat.
Lukas Rehm
niusic: Wie interagieren klassische und elektronische Klänge in „Castor&&Pollux“ miteinander?
Rehm: Es gibt zwei Elemente, die Barockmusik und mich. Und dann schaue ich, wie sich das begegnen kann. Ich fragmentiere beispielsweise die barocken Verzierungen 115 , die man sofort erkennt, denn sie sind auch vereinzelt schön – da, wo sie nicht erwartet werden.
niusic: Du dröselst also hier auch wieder das Klangbild auf?
Rehm: Genau, die Zeit wird angehalten und an manchen Stellen geht es dann weiter. Wie ein 3D-Scan von einer musikalischen Situation, wo ich gucke: Was passiert genau in diesem Moment? Das ist etwas ganz Anderes, als die Musik oder Töne in der Folge zu hören. Das, was dann entsteht, ist vollkommen neu, obwohl die Informationen dafür alle aus dem Raum stammen.
niusic: Verwendest Du dabei bestimmte Grundparameter?
Rehm: Es gibt keine Notation, sondern das, was ich mache, ist ein Arrangement in der Zeit.
niusic: Keine Notation?
Rehm: Nein, man kann entweder auf Basis von Noten oder Regeln komponieren, oder man hält den Klang an und das, was entsteht, ergibt sich aus dem, was man hört. Das unterscheidet meine Herangehensweise von jemandem, der eine klassische Kompositionsausbildung hat. Musik ist für mich die Möglichkeit, nicht in Konzepten zu denken, sondern in feelings. Das ist mein Refugium, wo ich den Kopf ausschalten kann. Meine Musik ist nicht getrieben von akademischen Prinzipien, die man benennen kann.
Der Teufel steckt im Detail. Barocksonaten oder -arien sehen auf den ersten Blick oft ziemlich einfach aus. Doch auf den zweiten Blick entdeckt man kleine Schlängellinien und andere Zeichen, die für jeweils eine bestimmte Art der Umspielung oder Verzierung stehen. Heute werden die dicken Lehrbücher von damals wiederentdeckt, und mancher Sopran trällert wie ein Vögelchen, obwohl nur eine Tonleiter notiert ist. (AJ) ↩
Lukas Rehm
niusic: Aber Du verwendest ja trotzdem Prinzipien.
Rehm: Ja, wenn ich einen Moment bearbeite, nehme ich manchmal Klänge heraus und verschiebe sie zeitlich nach hinten. Dadurch kann man Brücken bauen und das Eine wird zur Konsequenz des Anderen. Bruch, trotz Ähnlichkeit. Die Klänge, die so entstehen, kommen nicht aus dem nowhere, sondern sind schon in den vorherigen Informationen angelegt. Wie im Filmschnitt passen so die einzelnen Szenen zueinander, gibt es gewünschte Sprünge.
niusic: Wie verbindest Du das mit dem 4D-Raumsystem?
Rehm: Unterschiedlich, bei der Ouvertüre fungiert es als Lupe, in der Eclatez-Arie als Antagonist. Außerdem kann sich räumlicher Abstand auf den Klang auswirken, wenn also zwei Sängerinnen sich aufeinander zu bewegen, werden ihre Stimmen amplifiziert und verfremdet. Ich habe also ein Instrument, auf dem ich spielen kann.
niusic: Und wie spielt man auf diesem Instrument?
Rehm: Man kann beispielsweise eine Stimme gezielt an einen gewissen Punkt im Raum setzen, die sich von dort aus bewegen kann. Das ist der Grund für meine Beschäftigung mit Raumklang. Ich arbeite mit verschiedenen Layern und Klängen, die übereinander liegen, aber jeder Klang hat seinen eigenen Platz im Raum. Er kann beispielsweise von hinten kommen oder ein Pendant auf der gegenüberliegenden Seite haben. Dadurch können Entitäten entstehen, also Klänge, die ihre eigene Psychologie haben. Das kann ein Motorrad sein, das im Kreis fährt, oder ein Speer, der durch den Raum fliegt.
niusic: Ist das nicht auch sehr effekthascherisch?
Rehm: Das ist die Windmaschine aus dem 18. Jahrhundert auch, wir haben nur das Äquivalent aus dem Hier und Jetzt. Bei „Castor&&Pollux“ gibt es auch die Idee des digitalen Zwillings, der durch eine akusmatische Stimme repräsentiert wird. Es entsteht also eine Bühne für Klang, eine Landschaft mit Protagonisten darin, die miteinander oder gegeneinander sein oder sich auflösen können.
niusic: Warum habt Ihr Euch dabei ausgerechnet für die Kombination mit einer Barockoper entschieden?
Rehm: Wir hatten ursprünglich nur an die Themen Unsterblichkeit, Tech-Utopien und das Narrativ von Castor und Pollux gedacht. Erst dann sind wir auf die Oper von Rameau gekommen. Insgesamt gibt es so aber eine Verbrüderung von Zeiten, der Stoff kommt aus der Vergangenheit und wird in die Zukunft weitergedacht. Ich glaube nicht, dass es ohne Rameau geht.
niusic: Was ist für Dich das Faszinierende an Rameau?
Rehm: Das ist wahnsinnig schöne Musik, da muss ich einfach weinen. Rameau hat die Affekttheorie 6 ja mitbegründet und sich sogar ein musikalisches Vokabular für Affekte ausgedacht. Vielleicht können wir nur wissen, wie sich Trauer anfühlt, weil es Musik gibt, die das in uns evoziert. Rameaus Art, mit Kalkül den Gefühlen zu begegnen, fasziniert mich.
niusic: Inwieweit ist gerade das Musiktheater 137 ein Ort, an dem elektronische Musik ihren Platz finden kann?
Rehm: Das Musiktheater ist per Definition der Möglichkeitsraum, in dem jede Form von künstlerischem Mittel in ihrer eigenen Qualität auftreten kann, wie eine Diva. Es gibt Szenen, die danach lechzen, von Musik getragen zu werden, und die Tools der Elektronik können darauf besonders gut reagieren. Das Musiktheater ist so integrativ und offen, da findet die Elektronik leicht ein Zuhause.
Absteigende, kleine Sekunde=Schmerz, Dreiklang=Freude und Erregung. Komponieren als Baukastensatz? Aber so ganz simpel wird das Ganze dann meist doch nicht umgesetzt.Im Barock zur vollen Blüte gebracht, funktioniert diese "berechnende" Kompositionsmethode tatsächlich auch noch heute wunderbar. (MH) ↩
Singspiel, Oper, Melodram, Musical – das Auge hört überall mit! Denn Musik und Theater passen doch herrlich zusammen, oder? Dabei ist heute die Inszenierung die halbe Miete - wenn nicht mehr. Pappmaché-Burgen und Reifröcke werden von bedeutungsschwangeren Videoinstallationen abgelöst. Regisseure toben sich aus und geraten ins Fadenkreuz der Kritik, während Dirigenten sich in die Musik vergraben. Eine quirlige Welt mit viel Show&Shine! (KB) ↩
© Heidelberger Frühling