#zukunftsbühne

Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.

Von Roman Lüttin, 02.04.2019

Weltenwanderung in 4D

Zwischen Raumklang und Zeit, Bühne und Publikum verhandelt die Produktion „Castor&&Pollux“ die Zukunft des Musiktheaters – und die der Menschheit. Ein Probenbesuch.

Im barocken Theater erschaffen Bühnenmaschinerien Regen, Wind und Wolken; Rampen und Falltüren sorgen für unerwartete Wendungen. Das Drama fährt fort, bis außergewöhnliche Mächte den Konflikt auflösen – der Deus ex machina-Moment. Vor allem die Opern Jean-Philippe Rameaus verlangen im 18. Jahrhundert nach großen Effekten und opulentem Bühnenbild. Die Handlung soll durch ein möglichst realitätsnahes Bühnenbild transportiert, das Publikum gleichzeitig aber auch in fremde Welten entführt werden. Die Geschichte der Bühne, die Geschichte des Theaters überhaupt ist die eines Fortschritts, die einer stetigen und mehrdimensionalen Erweiterung. Dabei macht sich das Theater die zunehmende Technologisierung der Welt zunutze – von den ersten Versuchen mit Bühnenmaschinerien im Barock bis hin zum immersiv-multimedialen Musiktheater heute. Durch neue Möglichkeiten verändert sich die Art, wie wir Musik und Theater wahrnehmen, wie wir Gedanken formulieren und ausdrücken und auch: wie wir Musik komponieren, wie wir Theater machen. Der Heidelberger Frühling wagt in seiner Produktion „Castor&&Pollux“ den Versuch, sich diesem Phänomen künstlerisch anzunähern, gerade und vor allem durch den Einsatz von neuen Technologien. Die Hauptattraktion ist dabei das 4D-Soundsystem des Spatial Sound Institute aus Budapest.

#zukunftsbühne

Creative LAB, Sound 4D, Remixing – wie Musiktheater zukunftsweisend wird, untersuchen wir an der Produktion „Castor&&Pollux“ in Heidelberg.

Nur wie funktioniert das, vierdimensionaler Klang? Zunächst einmal: in unseren Köpfen. Das 4D-Soundsystem ist Bühne und Instrument zugleich. Ziel ist es, das Publikum von allen Seiten mit Musik zu umgeben und so die Dimension des Raumes neu zu nutzen und erfahrbar zu machen. Die Wahrnehmungsperspektive wird dabei grundlegend verändert. Das System soll Klänge erzeugen, die von uns eben nicht auf spezielle Schallquellen wie einzelne Lautsprecher zurückzuführen sind, sondern auf einen größeren Raum – der, in dem wir uns befinden; der, der uns umgibt; der genau zwischen uns und dem nächsten. Das 4D-Soundsystem positioniert die Klänge gezielt im Raum, die Lautsprecher können dabei Schallwellen in jede Richtung senden. Inmitten des Systems: eine Opernaufführung. Publikum und Ensemble bewegen sich frei. Zwischen den 16 Lautsprechersäulen, dem Instrumentalensemble, zwischen Sängerinnen, Sängern und Publikum entsteht eine Art der Konversation. Was macht das mit den Ausführenden? Die Klänge wandern durch den Raum, verändern unsere Vorstellung des Raumes, und wenn es funktioniert: auch das Erleben der eigenen Körperlichkeit.

Bühnenraum und totales Theater

Die Fakultät der Jurisprudenz von Rudolf Gleichauf (1886)

Bei der ersten Probe mit dem 4D-Soundsystem herrscht Anspannung, aber auch freudige Erregung. Inmitten der alten Aula der Heidelberger Universität steht das System, und der Kontrast zwischen Inszenierung und Ort wird offenbar. Hier begegnen sich zwei Architekturen, die ganze Lebenswelten repräsentieren. An der Decke der Aula: ein Gemälde der Justizia – sie vertritt den kultur- und wissenshistorischen Kosmos der vergangenen Jahrhunderte. Mit Richtschwert, Gesetzesbuch und Urkunde schaut sie herab auf den Bühnenraum, und ihr entgegen ragen die Klangsäulen des Lautsprechersystems. Dazu kommen mehrere großflächige Screens und acht im Boden versenkte Subwoofer. Durch das Lautsprechersystem haftet dem Raum plötzlich etwas Sakrales an, denn es entstehen zwei Seiten- und ein Hauptschiff – die Bühnenfläche. An der Stelle des Altars ist das Instrumentalensemble platziert.

Bereits zu Beginn der Probe zeigt sich der Kontrast nicht nur zwischen beiden Architekturen, sondern auch zwischen der körperlichen Materialität des Instrumentalklangs und den kaum greifbaren, neu komponierten Klängen des Komponisten Lukas Rehm. Das Spiel mit diesen beiden Qualitäten ergibt für ihn einen besonderen Anreiz: „Es ist einerseits die Dynamik durch die Körperlichkeit und andererseits die durch die Technik, die zwar schneller sein kann, aber der eben eine Dimension fehlt. Beide haben unterschiedliche Qualitäten, die sich ergänzen.“ Er möchte mit seiner Komposition „nicht den Blick führen, sondern das Gehör. Zu etwas Bestimmtem im Raum hin.“ Auf die Frage, was für ihn die vierte Dimension im Namen des Soundsystems bedeute, muss Rehm schmunzeln. „Die Frage ist dabei doch, ab wann hat etwas mit Transzendenz zu tun? 4D, n-Dimensionalität – das sind alles physikalische Prinzipien, die wir uns schwer vorstellen können. Und mit dieser affektiven Reichweite möchte ich spielen.“

„Es geht um menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte; es geht um Absichten, Utopien und die Bedeutung von Technik.“

Lukas Rehm

Bei einer Aufführung nimmt das Publikum immer zwei akustische Raumerfahrungen wahr, einerseits die im Aufführungsort und andererseits die komponierten Erlebensräume im Stück selbst. Rehm ist bewusst, mit welchen verschiedenen Ebenen er es hier zu tun hat. Spätestens jedoch wenn im Stück dann Ray Kurzweils Idee der Singularity dazukommt, wird es komplex. Wird der Mensch durch künstliche Intelligenz in Zukunft über sich selbst hinaus wachsen, möglicherweise auch mit Maschinen verschmelzen?
Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft sind bei „Castor&&Pollux“ fließend. Rehm möchte diese Spannung zwischen den Welten nicht nur mithilfe des Soundsystems, sondern auch mit seinen Videoprojektionen aufrechterhalten: „Mich interessieren diese verschiedenen Zeitschichten, und wie sie ineinander greifen. Es geht bei beiden um menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte; es geht um Absichten, Utopien und die Bedeutung von Technik. Wir öffnen in der Produktion verschiedene mediale Register und hoffen, dass es gut zusammen stattfindet, auch wenn es mal nebeneinander steht. Es gibt multi-, trans- und intermediale Zugänge zur Oper, und ich glaube, bei uns oszilliert das in den verschiedenen Situationen.“

Musiktheater möchte das Publikum mit den Mitteln seiner jeweiligen Zeit verzaubern, unterhalten, auch zur Reflektion und Diskussion anregen – damals wie heute. Rameau greift im 18. Jahrhundert mit dem antiken Mythos in „Castor et Pollux“ einen Stoff auf, der mit den Sujets der Unterwelt und der Unsterblichkeit jeweils räumliche und zeitliche Dimensionen diskutiert. Dass der Heidelberger Frühling dem Mythos und diesen beiden Dimensionen mit den Mitteln unserer Zeit begegnet, ist nur konsequent. Festival-Intendant Thorsten Schmidt hat dem jungen Künstlerteam den Freiraum gegeben, die Themen innovativ zu verhandeln. Wichtig ist für ihn, „dass der Heidelberger Frühling ein Ort ist, der das Experiment wagt und die Neugierde auf ästhetisches Neuland lebt“. Ob das Konzept auch für das Publikum aufgeht? Heute Abend feiert die Produktion in Heidelberg Premiere.

© Heidelberger Frühling/Studio visuell:
Camilo Delgado Diaz (Tenor, sitzend), Natalie Peréz (Mezzosopran, stehend), József Gál (Tenor, sitzend)
© wikicommons/CC BY-SA 4.0


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