#abgesagt

Nicht nur Konzertsäle und Opernhäuser mussten wegen der Corona-Pandemie schließen, es werden auch immer mehr Festivals abgesagt. Eine Tragödie, so viel ist klar – aber was bedeutet es denn konkret, wenn ein Festival nicht stattfinden kann? Die niusic-Themenreihe zum Heidelberger Frühling 2020.

Von Hannah Schmidt, 26.04.2020

Vorher aufs Klo

Aus #Unterwegs wurde durch Corona #DigitalUnterwegs. Kann ein Onlineangebot wie das des Heidelberger Frühlings ein Festival ersetzen, wenn ja, wie? Eine digitale Rundreise.

Knapp zwei Wochen nachdem die Absage des Heidelberger Frühlings in den Postfächern der Öffentlichkeit gelandet war, setzten sich Festivalintendant Thorsten Schmidt und Pianist Igor Levit vor die Kameras ihrer Laptops und diskutierten. Wie es ihnen ging, was ihnen fehlte und was nun eigentlich vom Festival übrig bleiben könnte, wenn niemand physisch in Heidelberg anwesend ist. „Bei einem Festival richtet sich alles Denken, Handeln und Planen an Menschen“, sagte Thorsten Schmidt. „Es geht darum Gemeinschaft zu ermöglichen, ästhetische Erlebnisse und Austausch zwischen den Menschen.“ Man könne nur versuchen „einen Hauch von dem, was geplant war, für das Publikum erlebbar zu machen.“

#abgesagt

Nicht nur Konzertsäle und Opernhäuser mussten wegen der Corona-Pandemie schließen, es werden auch immer mehr Festivals abgesagt. Eine Tragödie, so viel ist klar – aber was bedeutet es denn konkret, wenn ein Festival nicht stattfinden kann? Die niusic-Themenreihe zum Heidelberger Frühling 2020.

Als hätte sich eine Lawine gelöst

Zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung bereits gefallen, einen Teil des Frühlings ins Internet zu verlegen: Das geplante Motto #Unterwegs war verändert worden in #DigitalUnterwegs, wofür das Team verschiedene Künstler:innen kontaktiert und Formate mit ihnen abgesprochen hatte, darunter die Verwandlung von kleineren Konzerten in Livestreams, aber auch Aufnahmen von Podcasts, Workshops und Videobotschaften.
Es wirkt schon fast schicksalhaft: Mit dem Motto #Unterwegs hatte der Frühling nämlich ohnehin schon eins gewählt, das eine neue Konzeption bedeutete. Die Hauptspielstätte Kongresshaus Stadthalle ist wegen einer Sanierung für längere Zeit geschlossen, und so war die Suche nach neuen Räumen bereits im Gange: Es sollten verschiedene Spielstätten in der Altstadt zu einem „Festival-Campus“ verbunden werden, mit einem eigens neu errichteten transparenten Bau auf dem Universitätsplatz. Als hätte sich eine Lawine gelöst, fiel mit Corona nun nicht nur eine Spielstätte unter mehreren weg, sondern gleich das ganze Konzept des physischen Raums, den sich Menschen miteinander teilen.

So war es Ende März Igor Levit, der einen ganz klassischen Anfang im digitalen Raum machte: Zwei Tage nach der Konferenz spielte er alle Schostakowitsch-Präludien und Fugen in einem zweieinhalbstündigen Akt vor der Kamera. Solche Konzertstreams sind natürlich eine vergleichsweise einfache Möglichkeit und naheliegende Entscheidung – zu Beginn der Pandemie trafen sie viele Musiker:innen, Häuser und Festivals.

Das Problem dabei: Es riecht immer irgendwie nach Ersatz, und zwar nach keinem guten. Es scheppert und ruckelt, und die Atmosphäre zu Hause zwischen Laptop, Wein und Waschmaschine macht es nicht gerade leichter, dem Konzert konzentriert zu folgen. Nur ein leidenschaftliches Bekenntnis von Igor Levit selbst lässt einen die Zweifel anzweifeln: „Diese Abendkonzerte geben dem Tag einen Inhalt und haben eine heilende, eine rettende Funktion“, sagte er im Gespräch mit Thorsten Schmidt. „Zweieinhalb Stunden Streaming haben da etwas ungeheuer Intensives. Das ist nicht weniger intensiv als das Konzertgefühl, sondern auf eine gewisse Art und in dieser Zeit unendlich viel intensiver.“ Sogar in seinen täglichen, trashig-ruckeligen Twitter-Videos spürte man irgendwie, dass dem Spielen für ihn etwas beinahe Lebenswichtiges anhaftet. Umso unwürdiger eigentlich, währenddessen Pizza zu essen – oder?

Es sollte ein Wir-Gefühl entstehen

Dass die reine Verlegung von Konzerten ins Internet keine Alternative zum Festivalgeschehen darstellt, sondern allenfalls eine Ergänzung, das machte sich das Team bei der Konzeption von #DigitalUnterwegs bewusst. Mit seinem Konzept hat der Heidelberger Frühling deshalb im Vergleich eine innovative Lösung für die Zeit der Festivalabsagen und Ausgangssperren gefunden. „Das reine Übertragen des Konzerts kann auch interessant sein“, sagt Thorsten Schmidt kurz vor Ende des Festivals am Telefon, „aber eben nicht nur. Wichtig war uns eine Kombination aus Ereignissen wie dem Schostakowitsch-Konzert, Übertragungen wie vom Improvisations-Workshop und kleinen Beiträgen.“ Es sollte vor allem, wie beim Festival vor Ort, ein „Wir-Gefühl“ entstehen. Auch wenn niemand persönlich da sein konnte, sollte jede:r einzelne das Gefühl haben, mit anderen Besucher:innen und den Künstler:innen über die Musik, über das Festival in Kontakt zu treten.

Aber geht das überhaupt? „Ich glaube, es ist möglich“, sagt Thorsten Schmidt, auch wenn er dabei noch etwas kritisch klingt. „Man hat das Gefühl, dass sich die Leute nach einem Konzert wie dem von Igor Levit und Julia Hagen austauschen, das bekomme ich vom Publikum gespiegelt.“ Die Besucher:innen, sagt Schmidt, hätten sich auf die Konzerte vorbereitet, sie tauschten sich am Telefon aus, schrieben Mails über größere Verteiler oder in verschiedenen Gruppen auf WhatsApp. „Ich glaube schon, dass da was entsteht“, sagt Schmidt. In der Streamingwelt gibt es Geschichten von Menschen, die die Konzerte regelrecht zelebrieren, hochkonzentriert und ohne Handy, oder die vor einem Schostakowitsch-Stream noch einmal aufs Klo gehen, um währenddessen ruhig sitzen zu können – vielleicht sind es kleine Traditionen, die so ganz neu entstehen.

„Wir waren digital auf diese Krise nicht vorbereitet.“

Thorsten Schmidt

Die Festivalcommunity ist in der Corona-Ausgabe zumindest quantitativ gewachsen: 250.000 Menschen sahen sich die insgesamt 26 Beiträge auf der #DigitalUnterwegs-Seite an, gut fünf Mal so viele wie sonst beim Frühling zu Besuch sind. „So dramatisch die Krise ist und so schrecklich für Künstler:innen und Institutionen, so unglaublich wichtig ist es doch, dass wir daraus ableiten, was wir nach dieser Zeit im Kulturbereich mit den digitalen Möglichkeiten anfangen können“, sagt Schmidt. Denn es sei klar geworden: „Wir hängen als Kulturbereich digital ein bisschen hinterher und waren digital auf diese Krise nicht vorbereitet.“

Trotzdem, so schön man es auch immer reden möchte, die Erfahrung nach zwei Handvoll Videobotschaften, Kennenlern-Schalten zwischen Musiker:innen, schlauen Podcast-Dialogen und drei durchaus spannenden Workshop-Videos: Ein Festival wie der Heidelberger Frühling ist durch digitale Angebote, so kreativ sie auch immer sein mögen, nicht ersetzbar. „Das müssen wir glaube ich alle dringend lernen", sagt auch Schmidt. „Wir brauchen den Konzertsaal.“ Doch kann es gut sein, dass Künstler:innen und Institutionen jetzt Blut geleckt haben. Welche Formen digitaler Angebote kann es noch geben? Was bietet das Virtuelle, was das Physische nicht kann? „Eine Möglichkeit ist der vermittelnde Aspekt, der kommentierende Aspekt“, sinniert Schmidt. „Ich habe die Chance, dem Publikum die Möglichkeit zu geben, sich in einer bestimmten Form mit der Musik auseinanderzusetzen oder das Gehörte nachzubearbeiten. Wir können anfangen, Veranstaltungen analog und digital zu denken und nicht nur das Analoge ins Digitale zu übertragen. Möglich sind auch ganz neue Formate: Wie lege ich eine Veranstaltung so an, dass das, was ich im Saal erlebe, auch am Bildschirm interessant ist?“

Briketts statt Geld?

Selbst wenn wir, anders als Thorsten Schmidt vermutet, ein halbes oder Dreivierteljahr keine Konzerte mehr erleben sollten – in zwölf Monaten könnte die Pandemie überstanden und ein „normales“ kulturelles Leben wieder möglich sein. Vielleicht nicht zuletzt, weil die Menschen regelrecht ausgehungert sein werden nach Monaten des Zuhausesitzens und Musikhörens durch kleine Boxen.
„Wir haben die Erfahrung gemacht, in Krisenzeiten und nach Krisenzeiten, dass die Leute als allererstes wieder beginnen sich zusammen zu finden“, sagt Schmidt. „Wenn man daran denkt, wie nach dem Zweiten Weltkrieg Konzerte stattgefunden haben – da haben die Leute statt Eintrittsgeld Briketts mitgebracht, Künstler:innen wie Christa Ludwig bekamen statt einer Konzertgage einen Sack Zement. Ich glaube, das Bedürfnis der Menschen, Kunst gemeinsam zu erleben, ist so groß, dass wir erfindungsreich sein werden.“ Seien wir gespannt – die Planung für das Festival 2021 soll in vier Wochen beendet sein.

© Hannah Schmidt
© pexels


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