#abgesagt

Nicht nur Konzertsäle und Opernhäuser mussten wegen der Corona-Pandemie schließen, es werden auch immer mehr Festivals abgesagt. Eine Tragödie, so viel ist klar – aber was bedeutet es denn konkret, wenn ein Festival nicht stattfinden kann? Die niusic-Themenreihe zum Heidelberger Frühling 2020.

Von Anna Vogt, 22.04.2020

Aus dem Takt

Wenn man Mitte zwanzig ist und mit der Solistenkarriere durchstarten will, bedeutet die Coronakrise unheilvollen Stillstand. Anna Vogt hat mit Cellistin Julia Hagen über den Heidelberger Frühling, Karrieresorgen und Künstlernetzwerke gesprochen.

Das Musikfestival Heidelberger Frühling hat sich den Ruf erarbeitet, weit mehr zu sein als eine Reihe von Konzerten, eng getaktet über fünf Wochen. Doch der kreative Ausnahmezustand, der jeden Frühling in Heidelberg bekannte Künstler:innen, Newcomer und Publikum in einen intensiven Musik- und Gedankenrausch versetzt, musste dieses Jahr coronabedingt in ein körperloses, digitales Off umziehen. In der Online-Reihe #DigitalUnterwegs vermitteln Live-Streams, Videobotschaften und Gespräche zumindest einen Eindruck davon, was einem beim Heidelberger Frühling dieses Jahr geblüht hätte. Die Akademien und das hauseigene LAB 2020 wurden dagegen abgesagt. Die Cellistin Julia Hagen, Jahrgang 1995, war im letzten Jahr Stipendiatin der Kammermusik-Akademie und hätte 2020 als Fellow hierhin zurückkehren sollen. Stattdessen war sie nun zu Gast in einem Geisterkonzert: Gemeinsam mit Pianist Igor Levit spielte sie in der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler im Live-Stream Werke von Beethoven und Brahms für #DigitalUnterwegs. Mittlerweile hat Julia Hagen – wie so viele Musiker:innen – ganz viel Zeit. Wir erreichen sie telefonisch in Salzburg, wo die geborene Österreicherin die Corona-Auszeit bei ihrer Familie verbringt.

#abgesagt

Nicht nur Konzertsäle und Opernhäuser mussten wegen der Corona-Pandemie schließen, es werden auch immer mehr Festivals abgesagt. Eine Tragödie, so viel ist klar – aber was bedeutet es denn konkret, wenn ein Festival nicht stattfinden kann? Die niusic-Themenreihe zum Heidelberger Frühling 2020.

niusic: In der Anmoderation eures Live-Streams für den Heidelberger Frühling nannte Igor Levit „angstfrei“ als eine deiner herausragenden Eigenschaften. Ist das eine Grundvoraussetzung, um als Solomusikerin erfolgreich zu sein?

Julia Hagen: Ja, natürlich. Man muss angstfrei sein, um auf die Bühne zu gehen und vor dem Publikum so viel von sich selbst zu offenbaren. Man gibt ja seinen persönlichen Teil dazu, seine innersten Emotionen. Das ist nicht immer leicht, aber das Publikum spürt diese Angst, und man hört sie auch. Ich habe mich sehr gefreut über Igors Lob, auch weil ich selbst weiß, dass ich nicht immer angstfrei bin. Man muss lernen, Angst in etwas Positives umzuwandeln, indem man sich mit ihr auseinandersetzt.

niusic: War der Live-Stream mit Igor Levit dein erster Live-Stream?

Julia: In Österreich habe ich mal einen kleineren Live-Stream gespielt, aber gefühlt war der mit Igor eine Premiere. Nach den ganzen Negativnachrichten und Konzertabsagen war ich sehr glücklich über die Möglichkeit, für den Heidelberger Frühling ein Zeichen zu setzen, und das noch zusammen mit einem Künstler wie Igor Levit!

niusic: Habt ihr denn gemeinsam proben können?

Julia: Igor lebt, wie ich normalerweise, in Berlin. So haben wir unkompliziert proben können. Zu zweit geht das ja auch mit der Abstandsregelung ganz gut.

niusic: Ihr habt im Konzert weiter entfernt voneinander gesessen, als ihr das sonst tun würdet. Hat dich diese räumliche Distanz beim gemeinsamen Musizieren gestört?

Julia: Das hätte ich erwartet. Aber dadurch, dass man beim Spielen die Musik gemeinsam teilt und gedanklich so nah beim Kammermusikpartner sein muss, sind die anderthalb Meter zusätzliche Entfernung einfach verschwunden.

niusic: Kein Publikum, kein Applaus, kein direktes Feedback. Wie hat sich das für dich angefühlt?

Julia: Man weiß ja, dass sich Leute auf das Konzert freuen und vor den Bildschirmen sitzen und liest über Kommentare der Streams, dass vielen Menschen gerade jetzt Live-Musik eine große Stütze ist. Es ist aber schon merkwürdig, wenn nach dem letzten Ton nur Stille ist und kein Applaus. Und eigentlich würde man als Musiker:innen, wenn man so intensive Momente im Konzert zusammen verbracht hat, sich danach gern umarmen und vielleicht noch gemeinsam was trinken gehen. Das alles ist natürlich nicht möglich. Nach dem Spielen sofort allein nach Hause zu gehen … das fühlt sich sehr falsch an.

niusic: Warum war der Stream nur 24 Stunden online?

Julia: Ich denke, der Heidelberger Frühling wollte dadurch eine Art „Momentgefühl“ schaffen. Für die Zuhörer:innen fühlt sich das anders an, wenn ein Konzertmitschnitt nicht immer verfügbar ist.

niusic: Könnte es nicht problematisch sein, wenn jetzt alle gratis streamen, dass die Musik ein bisschen „verramscht“ wird?

Julia: Der Eindruck liegt vielleicht an der oft schlechten Klangqualität. Digitale Konzertformate werden natürlich nie so klingen wie im Konzertsaal. Und ich kenne zwar die Diskussionen, dass nach Corona die Leute vielleicht die Musik umsonst haben wollen, weil sie das jetzt so gewohnt sind. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das der Fall sein wird.

„Wann sieht man schon mal die Künstler:innen im Wohnzimmer?“

Julia Hagen

niusic: Vielleicht binden aber auch manche Künstler:innen gerade jetzt ihr Publikum neu an sich, weil man sie in einem anderen, privateren Kontext erlebt …

Julia: Eben. Wann sieht man schon mal die Künstler:innen im Wohnzimmer? Die Streams werden im Moment ja ziemlich gut geklickt, womöglich ist diese ungewohnte Nähe zwischen Publikum und Künstler:innen ein Grund dafür. Vielleicht müssen wir uns auch fragen, ob wir sonst im klassischen Musikbereich zu unnahbar sind.

niusic: Bleibt das Problem, dass Musiker:innen für Streams – anders als für Konzerte – kein Honorar bekommen, oder?

Julia: Wenn ich als Einzelperson ein Konzert streame, dann verdiene ich kein Geld damit. Aber wenn Konzerthäuser oder andere offizielle Institutionen derzeit Live-Streams planen, dann zahlen sie den Künstler:innen in der Regel zumindest ein bisschen Gage. Mit den Live-Streams des Heidelberger Frühlings wurden außerdem Spenden gesammelt für die Künstler:innen des Festivals.

niusic: Fühlst du dich als Solokünstlerin in der jetzigen Situation sehr als Einzelkämpferin oder spürst du gerade jetzt auch eine Solidarität in der Gesellschaft?

Julia: Im Moment sind die Leute wirklich großzügig und bereit, die Künstler:innen finanziell durch Spenden zu unterstützen. Aber die Bevölkerung wird uns nicht aus der Patsche helfen können, das muss die Politik leisten.

niusic: Und wie gelingt ihr das im Moment?

Julia: Mir macht vor allem Sorgen, dass es keine realistischen Pläne gibt, unter welchen Bedingungen Konzerte wieder stattfinden können. Die Vorgaben, die derzeit diskutiert werden, etwa dass jede:r Konzertbesucher:in 20 Quadratmeter Platz haben muss, sind leider einfach unrealistisch.

Auf der Überholspur: die Cellistin Julia Hagen

niusic: Dass Igor Levit dich für den Live-Stream angefragt hat und heute ein ziemlich großer Fan von dir zu sein scheint, hängt vor allem mit deiner Teilnahme an der Kammermusikakademie in Heidelberg im letzten Jahr zusammen. Wie wichtig ist ein Netzwerk, wie wichtig sind namhafte Mentor:innen für junge Künstler:innen?

Julia: Wenn man mit Künstler:innen wie Levit probt und Konzerte spielt, lernt man allein durchs gemeinsame Musizieren unfassbar viel, ohne dass man noch alles besprechen müsste. Natürlich macht sich eine solche Akademie gut im Lebenslauf, aber vor allem nimmt man aus solchen Begegnungen künstlerisch und persönlich wahnsinnig viel mit. Man wird dort ernst genommen und diskutiert auf Augenhöhe. Außerdem vernetzt der Heidelberger Frühling sehr gut. Heutige Superstars, die früher dort Akademist:innen waren, halten dem Festival die Treue. Das klingt ein bisschen kitschig: Aber der Heidelberger Frühling fühlt sich wie eine Familie an. Bei anderen Festivals bleibt das oft mehr an der Oberfläche.

niusic: Du hättest in diesem Jahr dort mehrere Konzerte spielen sollen. Auch andere wichtige Debüts standen an. Du bist ja in einer kritischen Phase deiner Karriere, die jetzt eigentlich gerade richtig an Fahrt aufnahm … Machst du dir Sorgen um deine Karriere?

Julia: Es ist schon bitter. Es wären so schöne Konzerte dabei gewesen, mein Debüt im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins zum Beispiel, das vor ein paar Tagen stattfinden sollte. Die meisten Konzerte können nicht verschoben werden und wurden abgesagt. Aber es geht ja vielen ähnlich wie mir, daher werde ich nicht jammern. Es ist nicht selbstverständlich, dass man nochmal gefragt wird für die gleichen Sachen. Aber ich bin noch jung, und es werden hoffentlich neue Chancen kommen.

niusic: „Angstfrei“ durch die Krise?

Julia: Anfangs dachte ich noch, dass Corona uns ja alle auf dieselbe Art und Weise betrifft und wir uns alle mit den gleichen Problemen da durchkämpfen müssen. Aber mir ist schnell klar geworden, dass zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die jetzt monatelang kein Einkommen hat, selbstverständlich existenziell bedrohlichere Sorgen hat als jemand, der „nur“ auf Kurzarbeit geschickt worden ist und keine Familie ernähren muss.

niusic: Wie sieht dein neuer Alltag aus?

Julia: Hier in Salzburg war ich in letzter Zeit erstmal viel im Garten und Wandern. Jetzt habe ich mir ein paar neue Stücke vorgenommen, die ich schon länger kennenlernen wollte. Ich mache mir keine Sorgen, dass mir das Repertoire ausgeht (lacht). Aber ich bin gespannt, wie es in zwei Monaten mit meiner Motivation aussieht, wenn man kein unmittelbares Ziel vor Augen hat …

„Es wird einem bewusst, wie viel man die ganze Zeit auf Achse war, dass man ständig in den nächsten Zug gesprungen ist, wie durchgetaktet der Alltag war.“

Julia Hagen

niusic: Zumindest die Natur freut sich über den Stillstand und regeneriert ein wenig. Denkst du, dass der internationale Konzertbetrieb nach dem erzwungenen Lockdown wie bisher weiter gehen wird – mit Konzerttourneen rund um die Welt?

Julia: Ich merke seit etwa einem Jahr, also schon lange vor der Coronakrise, dass das Thema Klimaschutz unter Musiker:innen präsenter wird. Für zwei Konzerte nach Asien zu jetten … das muss wirklich nicht sein! Wir sind es gewohnt, immer das zur Verfügung zu haben, was man sich wünscht. Das kann man auf jeden Fall hinterfragen. Andererseits ist der Austausch der Kulturen auch sehr wichtig und muss in einer geeigneten Form weiter existieren. Ich werde auch in Zukunft nicht alle meine Konzerte in Österreich spielen (lacht).

niusic: Man wird froh sein, wenn man überhaupt mal wieder ein Konzert hören kann …

Julia: Ja, und in dieser Ausnahmephase gerade wird einem erst richtig bewusst, wie viel man die ganze Zeit auf Achse war, dass man ständig in den nächsten Zug gesprungen ist, wie durchgetaktet der Alltag war. Ich bin sehr gespannt, was diese Entschleunigung mit der Gesellschaft noch machen wird.

© Heidelberger Frühling
© Julia Wesely


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