Von Anna Vogt, 14.07.2018

Schräge Töne

Das Singen von Nationalhymnen bei der WM ist nicht jedermanns Sache. Kein Wunder, denn die meisten Hymnen sind mit ihren kriegerischen, religiösen und patriarchalischen Inhalten einfach nicht zeitgemäß. Sie setzen auf Ausgrenzung statt Toleranz.

Wenn morgen auf der ganzen Welt die Fernseher eingeschaltet und die ersten Bierflaschen aufgeploppt werden, gilt eines der ersten Rituale dieses WM-Finales der Musik. Dann gleitet die Kamera in Nahaufnahme über französische und kroatische Fußballergesichter, die mit glasigem Blick die Liedzeilen ihrer Nationalhymnen vor sich hinmurmeln oder sie aus voller Brust schmettern, gemeinsam mit ihren Fans im Stadion. Verse wie übrigens diese: „Zu den Waffen, Bürger, formt eure Truppen, Marschieren wir, marschieren wir! Unreines Blut tränke unsere Furchen“ (Frankreichs Marseillaise aus dem Jahr 1792).



Nicht jeder kann sich mit solchen Texten identifizieren; und nicht jeder Fußballer kann die Melodien sauber intonieren, was oft gnadenlos von den Mikros eingefangen wird. Doch auch aus anderen Gründen ziehen es manche vor, nicht mitzusingen. Mesut Özil zum Beispiel, über den deshalb ein wahrer Social Media-Shitstorm hereinbrach, als die Kamera ihn bei den Weltmeister-Spielen mit deutscher Beteiligung stumm erfasste. Das ging bis hin zu rassistischen Auswüchsen und drohendem Zeigefinger wegen der vermeintlich „undeutschen“ Gesinnung. Die hatten ihm einige durch das gemeinsame Foto mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan wenige Wochen zuvor ohnehin schon absprechen wollen. Mesut Özil hat im Übrigen längst erklärt, obwohl er das keineswegs hätte tun müssen, dass er kurz vor einem wichtigen Spiel lieber bete als singe.

Ob jemand wie Özil singt oder nicht singt, scheint in unseren Zeiten für manchen weit mehr als eine Randnotiz. Professor Ulrich Schmidt-Denter hat in einem Interview mit Spiegel online die Bedeutung der Nationalhymne folgendermaßen erklärt: „Der Nationalstaat repräsentiert sich ja wie eine Familie: Man gehört zusammen. Um diese sinnbildliche Verwandtschaft herzustellen, braucht man gewisse Symbole wie die Flagge oder eben die Nationalhymne. Sie hat einen besonders hohen Stellenwert, weil Musik stärker an die Emotionen heranreicht als etwa die Verfassung.“ Dass das Nicht-Mitsingen von Özil gerade jetzt für viele problematisch war, deutet Schmidt-Denter damit, dass „der Wunsch nach dem Nationalen (…) eine Reaktion darauf (sei), dass man globale Bedrohungen stärker wahrnimmt als früher. Das ist ja derzeit überall auf der Welt zu beobachten. Und auf Bedrohungen reagiert der Mensch mit Zusammenhalt.“

Konstruierter Zusammenhalt: „Mia san mia“ – und das ausnahmsweise mal für ganz Deutschland.

Nur ist dieser Zusammenhalt kein „echter“, sondern ein konstruierter, hoch emotional, aber eine Luftblase. Er funktioniert auch über Feindbilder, über das Ausschließen von einzelnen. Eine Nationalhymne dient dabei als Mittel zur gemeinsamen Selbstvergewisserung: „Mia san mia“ – und das ausnahmsweise mal für ganz Deutschland. Die WM scheint den schwierigen gesellschaftlichen und sozialen Konflikten innerhalb eines Landes – und das gilt auch für andere Nationen – kurzzeitig eine Pause verschaffen zu können: in einem vierwöchigen Ausnahmezustand, in dem das nationale Wir-Gefühl gehätschelt und bekräftigt wird.
Das geschieht allerdings dank der Nationalspieler, in deren Fußballeralltag Deutschland sonst oft nur eine Zwischenstation ist aufgrund des Jobkarussells, das die Spieler von Land zu Land, von Verein zu Verein schleudert: Mailand, Barcelona, München. Viele Spieler haben Migrationshintergrund, nicht wenige auch zwei Pässe. Doch als Mitglied der Nationalmannschaft bitteschön soll das Vaterland als einzig wahres und gültiges besungen werden.

Religion, Kriege, Natur

Natürlich hat das gemeinsame Singen etwas Verbindendes und diese Musik eine besondere emotionale Kraft. Bei genauerem Hinhören können einen manche Hymnentexte allerdings auch zum Gruseln bringen. Religiöse Passagen, identitätsstiftende Kriege, längst vergessene Heldentaten: Wozu brauchen wir heute diese alten, für viele von uns nicht mehr zeitgemäßen Texte und Melodien? Japans Hymne etwa stammt aus dem 10. Jahrhundert; in der Hymne der Schweiz dürften sich Atheisten eher wenig von der Passage angesprochen fühlen: „Wenn der Alpenfirm sich rötet, betet, freie Schweizer, betet!“
Die Österreicher sind in Sachen Hymne übrigens überraschend fortschrittlich: Sie haben 2012 ihre Bundeshymne abgeändert, statt „Heimat bist du großer Söhne“ heißt es nun „Heimat großer Töchter, Söhne“. Und aus den glorifizierten „Bruderchören“ wurden genderneutral die „Jubelchöre“. Könnten wir uns auch mal überlegen in Bezug auf das gepriesene „Vaterland“ und das „brüderlich mit Herz und Hand“. Spanien verzichtet gleich ganz auf einen Text, doch die „Marcha Real“ lässt auch mit musikalischen Mitteln stolz und drohend die Säbel rasseln. Die Argentinier singen übrigens auch nicht, weil bei ihrer Hymne bei Länderspielen immer nur das instrumentale Intro gespielt wird und vor der ersten Strophe abbricht. So unterschiedlich die Länder, so unterschiedlich ihre Hymnen. Die skandinavischen Länder scheinen friedlicher und besingen vor allem gern die Schönheit ihrer Landschaften, wie Schweden mit „Deine Sonne, deinen Himmel, deine grünen Wiesen“.

Die Frage nach dem Gefühl zur nationalen Identität wird weiter polarisieren und bei jedem zu anderen Antworten und Befindlichkeiten führen. Vielleicht wäre es aber an der Zeit, die Fußballer von der Pflicht zu befreien, auch als musikalische Botschafter ihrer Länder fungieren und sich dabei zugleich als noch größere Patrioten erweisen zu müssen als in den folgenden kräfteraubenden Spielen ohnehin schon.
Wäre es nicht schön, wenn jedes Land seinen eigenen Swing-Chor, seine Jazzcombo, seine HipHop-Gang oder was auch immer aufbieten könnte zu solchen Meisterschaften? Die würden dann die jeweilige Nationalhymne auf kreative, moderne und immer wieder andere Art und Weise zum Leben erwecken und damit zugleich ins Hier und Jetzt übersetzen. Sie neu vertexten, neu vertonen. Im Zeichen von Toleranz und Inklusion, statt dem Beharren auf den ewig gleichen Hymnen-Floskeln: Wir sind die tapfersten, stärksten, schönsten. Nur leider in der Vorrunde rausgeflogen.

© Marco Verch/flickr.com/CC BY 2.0
© Abbilder/flickr.com/CC BY-ND 2.0


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