#stayarthome

In Zeiten von Ausgangssperren und Kontaktverboten müssen Künstlerinnen und Künstler neue Wege finden, die Menschen zu erreichen. Die niusic-Themenreihe zur Corona-Pandemie.

Von Marie König, 04.04.2020

Musik gegen Trägheit

In der Corona-Pandemie kann Musik ein wichtiger Anker sein: Menschen streamen Konzerte, nehmen Instrumentalunterricht über Skype, veranstalten Balkon-Konzerte. Musiktherapeutin Susanne Bauer von der Universität der Künste Berlin erzählt, warum und wie Musik in dieser Situation eine Hilfe sein kann.

niusic: Würden Sie den Menschen jetzt empfehlen, Musik zu machen?

Susanne Bauer: Viele Leute sind zurzeit unsicher, hilflos und fühlen sich ausgeliefert. In dem Moment, in dem ich ein Instrument in die Hand nehme, aktiv werde, ist dieses Gefühl für eine Zeit lang aufgehoben. Wir haben zurzeit nicht sehr viel Kontrolle über die Dinge, die um uns herum passieren.
Deshalb ist es sinnvoll, sich Räume zu suchen, in denen man selbst bestimmen kann. Sich fokussieren, sich konzentrieren, sich etwas vornehmen und es dann auch machen. Das ist, glaube ich, ziemlich gesund, insofern würde ich das schon empfehlen.

#stayarthome

In Zeiten von Ausgangssperren und Kontaktverboten müssen Künstlerinnen und Künstler neue Wege finden, die Menschen zu erreichen. Die niusic-Themenreihe zur Corona-Pandemie.

niusic: Sie haben erforscht, was das Musizieren für isolierte Menschen bedeuten kann, am Beispiel der Sekte „Colonia Dignidad“ in Chile. Gibt es Parallelen zur häuslichen Quarantäne?

Bauer: Ja, vielleicht passt das ganz gut, auch wenn es ein völlig anderer Kontext war. In dieser Sekte war es den Menschen verboten, miteinander zu sprechen. Aber es gab einen Raum, in dem man eine Stunde pro Tag alleine sein und ein Instrument üben durfte. In den Interviews kam heraus, dass das Instrument fast wie ein Freund, wie ein anderes Gegenüber ist, mit dem man in Beziehung tritt.

niusic: Wie sieht diese Beziehung aus?

Bauer: Über die Art und Weise, wie ich das Instrument spiele, kann ich mich wahrnehmen und werde mir meiner selbst bewusst. Die Untersuchung hat gezeigt, dass ein Kern-Selbst erhalten bleiben kann, weil ich mit dem Instrument in einen Dialog trete. Natürlich kann das ein menschliches Gegenüber nicht ersetzen, aber es ist so eine Art Spiegel, eine Unterhaltung mit sich selbst.
Gleichzeitig kommt man voran: Indem man sich mit dem Instrument beschäftigt, entsteht ein Zugewinn an Information, an Selbstwertgefühl. Ich kann natürlich auch mal frustriert sein. Aber am Ende ist es schon etwas, was den Menschen Halt gibt, auch in schwierigen Situationen.

Susanne Bauer ist Psychologin, Musiktherapeutin und Professorin für Musiktherapie am Zentralinstitut für Weiterbildung der UdK Berlin.

niusic: Viele Menschen fühlen sich durch die aktuellen Einschränkungen auch eines Teils ihrer Identität beraubt. Kann Musik über diesen Mangel hinweg helfen?

Bauer: Musik ist immer ein Bestandteil des Selbst und hat viel mit der eigenen Biografie zu tun. Angefangen bei den Kinderliedern, über die Musik unserer Peergroup bis hin zu musikalischen Gewohnheiten wie Konzertbesuchen, die wir jetzt entbehren müssen.
Musik ist identitätsstiftend. Sie hilft uns, zu bestätigen: Ich bin, wer ich bin. Wenn Musik Teil meines Selbst ist, dann tut es mir sicherlich gut, das jetzt weiterzubetreiben und mich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Ich sehe Musik immer im Kontext von Kommunikation, sozialen Bindungen, Regulierung von Gefühlen: sich beruhigen, sich motivieren. Und ich verstehe Musik als Mittel gegen das Gefühl des Opfer-Daseins. Man verharrt nicht in der Passivität, sondern fragt sich: Was möchte ich spielen? Wann fange ich an, wann höre ich auf? Ich tue mir etwas Gutes, tue anderen etwas Gutes, nehme die Situation selbst in die Hand.

niusic: Wie blicken Sie als Musiktherapeutin auf den Streaming-Hype?

Bauer: Es hat für beide Seiten etwas Gutes: Der, der streamt, hat das Gefühl, er leistet einen Beitrag für die Gesellschaft. In einer Situation, wo sich die Leute eingesperrt fühlen, öffnet er einen virtuellen Raum und kann einen kleinen Heldenmoment erleben. Er erfährt Selbstbestätigung, gleichzeitig ist es für ihn auch eine Gelegenheit, sich zu zeigen.
Und für die, die zuhören, kann es eine Ermutigung sein: zu sehen, was man auch in einer solchen Situation noch tun kann. Und man kann sich daran freuen, dass man einfach so etwas ins Wohnzimmer geliefert kriegt. Beim Streaming trifft das ganz persönliche Bedürfnis zusammen mit dem Wunsch, von anderen gehört, gesehen und bestätigt zu werden.

„Ich verstehe Musik als Mittel gegen das Gefühl des Opfer-Daseins.“

niusic: Die Balkon-Konzerte haben vielen Mut geschenkt. Warum?

Bauer: Egal, ob wir selbst beteiligt sind oder nur zusehen: Da entsteht ein ganz starkes Gruppengefühl. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wenn man sich mit anderen vereinsamten Menschen identifizieren kann, fühlt man sich als Teil einer Gruppe. Und dadurch merkt man, man ist nicht alleine mit der Einsamkeit, man ist nicht alleine mit der Hilflosigkeit. Ich glaube, das ist für den Menschen eine wichtige Erfahrung.
Plötzlich sind wir alle in der gleichen Not, egal wie alt wir sind und wo wir herkommen. Man kann nur hoffen, dass ein bisschen was von dem übrig bleibt, wenn wir wieder die Freiheit genießen können, die uns jetzt vorenthalten ist.


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