#akkordarbeit

Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.

Von Silja Vinzens, 23.06.2020

Der Riese mit dem Schmetterling

Vadim Gluzman hat ein reines Pēteris Vasks-Album aufgenommen. Im Gespräch erzählt er, was ihn an der Musik des Letten besonders berührt.

„Vasks Musik klingt so, als hätte er die Essenz des Singens selbst erfunden.“

Vadim Gluzman

niusic: Sie haben sich entschieden, eine CD ausschließlich mit Werken des lettischen Komponisten Pēteris Vasks aufzunehmen – warum?

Vadim Gluzman: Ich habe meine Kindheit in Lettland verbracht. Schon als ich noch ein junger Schüler an der Musikhochschule war, war er ein sehr anerkannter Komponist – noch nicht so berühmt wie heute –, aber schon sehr bekannt. Auf eine gewisse Art und Weise ist seine Musik also wie eine Tür zu meiner Kindheit für mich. Dazu kommt, dass Vasks Stücke stark in der lettischen Folk-Tradition verwurzelt sind. Diese Musik ist das eine, das die Sowjets den Letten nicht nehmen konnten. Sie haben sonst alles, was den nationalen Charakter des Landes bestimmte, unterdrückt, aber seine Lieder, die haben die Kommunisten dabei irgendwie übersehen – ein Glück! Musik war immer und überall da, denn die Letten sind ein extrem musikalisches Volk. Dass die Menschen singen, ist dort einfach ein Teil der DNA. Und Vasks Musik klingt so, als hätte er die Essenz dieses Singens selbst erfunden. Ich kenne keinen Menschen, der so voller Leben ist, wie er. Vasks kann sich über eine Blume, die er in seinem Garten sieht, so sehr freuen, dass er daraus die Inspiration für die nächsten zehn Jahre zieht. Diese Aufnahme mit seiner Musik ist für mich, der ich mich noch immer sehr stark mit Lettland und seiner Kultur verbunden fühle, eine ganz persönliche Reise. Als Mensch und Musiker.

niusic: Als Kind hat Pēteris Vasks selbst Geige gelernt, später studierte er Kontrabass. Hat das besondere Auswirkungen auf seine Werke für Violine?

Gluzman: Vom ersten Moment in meinem Leben, als ich die Geigensaiten berührte, schärfte mein Lehrer mir ein, dass ich mit diesem Instrument singen soll. Vasks Stücke für Streicher, nicht nur für die Violine, sind unglaublich gesanglich und passen ganz natürlich zum Klang der Instrumente.

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Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.

niusic: Es ist eine sehr atmosphärische Musik. Haben Sie dabei etwas Bestimmtes vor Augen?

Gluzman: Ich denke, Musik ist die abstrakteste Form der Kunst. Ganz generell empfinde ich es nie als nötig, mir selbst Bilder zu geben für das, was ich spiele. Das war noch nie eine Angewohnheit von mir. Vielleicht ist das auch der Grund, warum mir Programmmusik nicht so viel Freude bereitet. Wenn mir ein Bild vorgegeben wird, fühle ich mich oft eingeengt. Für mich ist Musik Freiheit. Sie lässt einen über die ultimative Bandbreite an Ausdruck verfügen. Vielleicht kommt dieses Gefühl bei mir auch durch meine Erlebnisse mit der Sowjetunion, in der das Konzept der Freiheit nicht vorkam. Musik war es, die dort den Raum gab, sich alles vorzustellen, was man wollte.

niusic: Das Violinkonzert „Distant Light“ hat es Ihnen besonders angetan. Warum?

Gluzman: Nun, ich liebe es ganz einfach. (lacht) Alles andere, was ich dazu sagen würde, würde ihm nicht gerecht werden.



„Das fühlt sich an, als würde ein Riese mit sehr großen Händen einen winzigen Schmetterling halten, von dessen Schönheit er so berührt ist, dass es wehtut.“

Vadim Gluzman

niusic: Gibt es in dem Konzert vielleicht einen Schlüsselmoment, von dem Sie erzählen können?

Gluzman: Das ist eine sehr unfaire Frage (lacht und überlegt dann lange). Ja, doch … kurz vorm Schluss. Ich weiß aber nicht, wie ich das in Worte fassen soll. Es ist so ein Moment, an dem man sich kaum traut zu schlucken. Das fühlt sich an, als würde ein Riese mit sehr großen Händen einen winzigen Schmetterling halten, von dessen Schönheit er so berührt ist, dass es wehtut. Abgesehen davon gibt es einfach eine große Anzahl an Momenten in dem Werk, die sehr stark sind.

niusic: Vasks hat sein Violinkonzert ja mit den Worten beschrieben: „Ein Lied, das aus der Stille kommt und in die Stille fließt – voll von Idealismus und Liebe, in Zeiten von Traurigkeit und Dramen“. Er sagte auch, dass es vor allem von „unglücklichen Menschen, solchen, die im Krankenhaus liegen oder im Gefängnis sitzen“ gehört werden sollte. Wie interpretieren Sie dieses Statement?

Gluzman: Ich denke, seine Worte stehen für die Essenz von Spiritualität. Es sagt aus, dass wir Menschen schon durch so viel in der Geschichte gegangen sind, um zu realisieren, was wirklich wichtig für uns ist. Vasks ist nicht offen religiös, aber ganz gewiss unglaublich spirituell. Diese Seite von ihm wird in diesem Satz besonders deutlich und ist vor allem ein ganz großer Teil seiner Musik.

niusic: Vasks selbst sagt, er habe seine Kindheitserinnerungen im Violinkonzert musikalisch verarbeitet. Auch Sie haben Ihre Kindheit in Lettland verbracht. Haben Sie ein besonderes Gefühl dabei, Werke eines lettischen Komponisten zu spielen?

Gluzman: Ja. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, auch die ganzen jüngeren, wundervollen Komponisten des Landes zu spielen. Mit Vasks ist es etwas ganz Besonderes für mich, weil seine Musik so pur ist. Er hat – so weit, wie ich sein Werk kenne – nie etwas geschrieben, nur um der Mode zu entsprechen. Er komponiert einfach, was er komponieren muss. Wir haben mal darüber gesprochen, oder besser gesagt, versucht darüber zu reden, aber, um ehrlich zu sein, denke ich, dass die Musik manchmal fast mehr seine Sprache ist, als es Worte je sein können. Und dennoch ist es ein richtiges Handwerk, das sagt er selbst. Er sitzt Stunden um Stunden daran, das ist – neben all der Inspiration – richtig harte Arbeit.

Über den Künstler

Der Geiger Vadim Gluzman, 1973 als Sohn einer Musikwissenschaftlerin und eines Dirigenten in der Ukraine geboren, hat sich als Solist zahlreicher renommierter Orchester, wie etwa dem Gewandhausorchester Leipzig und dem London Philharmonic Orchestra, international einen Namen gemacht. Zu seinen wichtigsten Mentoren zählt der Violinist Isaac Stern. Gluzman, der heute in Israel und den USA lebt, hat seine Kindheit größtenteils in Lettland verbracht, bevor die Familie 1990 nach Israel umzog. Mit Pēteris Vasks, dessen Werken er sein jüngstes Album vollständig gewidmet hat, verbindet ihn eine enge Freundschaft.

Fotos: Marco Borggreve, Pixabay


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