Von Sophie Emilie Beha, 23.07.2019

Mit dem Textmarker

Bei „I Will Always Love You“ denkt jeder automatisch an die samtig schmachtende Stimme von Whitney Houston, dabei war der Song ursprünglich eine Countryballade von Dolly Parton. Eine Playlist über Bearbeitungen in der klassischen Musik.

Puristen mögen ihre Nasen rümpfen, aber das Musikrepertoire wäre ohne das Arrangement, die Paraphrase, die Variation oder das Cover eindeutig ärmer. Franz Liszt führte 1830 für seine Klavierbearbeitungen den Begriff „Transkription“ ein und schuf davon eine beachtliche Menge. Nachdem er die monströse Musik von Hector Berlioz auf seinen Solo-Tourneen gespielt hatte, adaptierte er die neun Sinfonien von Beethoven, brachte 55 Lieder von Franz Schubert heraus und veröffentlichte unter anderem Opernmelodien von Verdi, Mozart und Wagner für Klavier. Weil seine Transkriptionen jetzt auch von anderen gespielt werden konnten, verschaffte Liszt den Werken eine größere Aufmerksamkeit, die Schubert-Lieder waren beispielsweise nur im Wiener Umkreis bekannt. In „Auf dem Wasser zu singen“ ergänzt er das einfache Strophenlied um wogende Wellenbewegungen und fügt noch eine eigene Strophe hinzu, die das Lied in ein Klanggedicht verwandelt und damit eine Kehrseite der Transkription offenbart: Ohne den Text wird die Handlung vage, das Konkrete geht verloren und lässt Raum für Mehrdeutigkeit.

„Der Pianist entdeckt den Flügel neu – als Instrument, das jede Verwandlung gestattet – und sich selbst als den Mann, der alles verwandeln kann: den Flügel in eine Orgel, eine Oboe, ein Orchester; sich selbst in einen Dirigenten, einen Liedersänger, in einen Erzähler, Zigeuner, Priester, Derwisch, Maler, in Vögel oder Meereswogen, ja in die Elemente selbst.“

Alfred Brendel

Klaviertranskription und romantische Virtuosität waren auch Lieblingszutaten von Leopold Godowsky, dem „Genie der linken Hand“. Er verkomplizierte die ohnehin schon vertrackten Etüden von Fréderic Chopin in fingerbrechende Faszinosa. Godowsky wollte „die allgemein herrschende Ansicht, daß die linke Hand weniger entwicklungsfähig sei als die rechte, widerlegen“. Laut Godowsky hat die linke Hand nämlich zahlreiche Vorteile gegenüber der rechten, sie kann mit weniger Anstrengung einen volleren, weicheren Ton produzieren und besitzt eine elastischere Muskulatur. Die Etüde Opus 25, Nr. 4 in a-Moll ist reinste Fingerakrobatik ausschließlich für die linke Hand, herausragend interpretiert von Marc-André Hamelin.



Aber schon lange vor den romantischen Pianisten wurden Musikwerke umgearbeitet, im Barock eine gängige Praxis. Johann Sebastian Bach bearbeitete viele seiner eigenen Werke, aber auch Stücke anderer Komponisten: In „Sechzehn Konzerte für Cembalo solo“ stammen sechs Konzerte von Antonio Vivaldi, die übrigen von Georg Philipp Telemann und Benedetto Marcello. Auf Bearbeitungen von Bach verwendete dagegen Ferruccio Busoni sein halbes Lebenswerk, er vertrat dabei eine ganz eigene Auffassung, dargelegt in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“:

„Transcription: gegenwärtig ein recht missverstandener, fast schimpflicher Begriff. [...] Was ich endgültig darüber denke ist: jede Notation ist schon Transcription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt.“

Ferruccio Busoni

Von dieser ersten Bearbeitung zur zweiten wäre es dann nur noch ein kurzer Weg, meint Busoni. So kurz, dass seine Umarbeitungen auch nicht vor den Werken seiner Zeitgenossen haltmachten, sehr zum Missfallen von Arnold Schönberg. Busoni lässt in seinen Transkriptionen des „Wohltemperierten Klavier“ Bachs wesentliche Strukturen unangetastet. Seine Eingriffe beziehen sich mehr auf die Klangeigenschaften des modernen Konzertflügels, so verleihen Pedal und eine differenzierte Dynamik dem „Präludium Nr. 3 in Cis-Dur“ eine besondere Ausdruckskraft. Busonis Version klingt dichter, etwas bauschiger als das Original, in der rechten und linken Hand fächert er die Akkorde auf, fügt Intervalle hinzu und unterfüttert so die Harmonik.

Die Bearbeitung von Jazzpianist Brad Mehldau führt hingegen sehr weit weg von Bach. Mehldau widmet ein gesamtes Album dem „Wohltemperierten Klavier“ und hängt jeweils an seine eigene Interpretation des Originalwerks eine Improvisation an. Da, wo Busoni den Rhythmus und die Melodie des Cis-Dur-Präludiums unberührt lässt, entscheidet sich Mehldau für eine lässige Jazz-Variante: Indem er die letzte Bass-Achtel zur betonten ersten Viertel im nächsten Takt hinüberbindet, entsteht ein leichter Auftakt, der das gesamte Stück nach vorne schiebt. Im darauffolgenden, improvisierten „After Bach: Rondo“ läuft das durchlaufende Bassfundament von Bach schnell in den entgrenzten Outback, aus jeder kleinsten Akzentverschiebung entwickelt sich Spannung. Auch die Harmonien werden nicht zu Ende geführt, sondern abstrahiert und neu angeordnet. Trotzdem scheint das Original in Form einer Rhythmusschleife, Akkordverbindung oder eines Melodiefetzens stets durch.

Wie eigenständig ist eine Bearbeitung?

Wie eigenständig ist eine Bearbeitung? Ohne das Original würde sie gar nicht existieren, ist sie damit automatisch weniger wert? Die Transkription kann eine eigene Deutung des Werks zum Ausdruck bringen, wie eine gezeichnete Karikatur kann sie bestimmte Eigenschaften hervorheben und verstärken. Alleine schon die Wahl der Instrumente und Klangfarben kann die Atmosphäre eines Stücks total verändern. Nataša Mirkovic-De Ro und Matthias Loibner ersetzen in ihrer Aufnahme von Schuberts „Winterreise“ das Klavier durch eine Drehleier, die einen mit stockend-schnarrenden Akkorden und kratzigen Klängen frösteln lässt. Godowsky dagegen verleiht dem Wanderer in „Gute Nacht“ eine zweite innere Stimme, indem er kleine kommentierende Motive einbaut.

Diese hinzugefügten musikalischen Kommentare bekommen im nächsten Stück ein Eigenleben. Klarinettist David Orlowskys hat zusammen mit „Singer Pur“ Vokalmusik der Renaissance eingespielt. In Carlo Gesualdos „Tristis est anima mea“ (Arrangement: Matan Porat) ist die Klarinette zunächst Teil des Ensembleklangs, bricht aber bald aus ihm aus und erweitert ihn um reibende und doch verwandte Klangfarben, eine verstärkte Textausdeutung. Den gegensätzlichen Weg geht Noël Akchoté, er spielt John Cages „Six Melodies“ für Geige und Tasteninstrument auf Gitarre ein und macht dadurch die rhythmischen Muster transparenter. Das zwingt zum Zuhören!

Als krönenden Abschluss überraschen Andreas Martin Hofmeir und Benjamin Schmid mit ihrer etwas eigenartigen Kombination von Tuba und Violine und verblüffen mit dem höllisch schweren Virtuosenglanzstück „La Ronde des Lutins“ von Antonio Bazzini. Danach György Kurtágs Transkription der Bach-Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ für vier Hände. Sie wirkt demütig, geistig entrückt, der Melodie genügen Oktavverdopplungen und eine Achtelbegleitung. György Kurtág und seine Frau Márta liefern eine innig-schwebende Interpretation. Wie ein neues Gewand oder Kostüm stülpen sich Transkriptionen über ihre Vorlagen. Sie können neue Perspektiven aufzeigen und wie ein Textmarker bestimmte Charaktereigenschaften des Originals hervorheben, dabei bleibt dessen schöpferische Qualität stets unangefochten. Die Bearbeitung ist nicht der Ersatz, sondern die Ergänzung.

Hero: © Marius Masalar
Kachel: © Judith Wiesrecker
Johann Sebastian Bach: © immugmania / flickr.com / CC BY 4.0


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