Von Thilo Braun, 25.05.2018

Sieben x Schnebel

Dieter Schnebel ist am Pfingstsonntag im Alter von 88 Jahren verstorben. Sieben Videos mit Werken aus vier Jahrzehnten geben Einblicke in das performative und oft humorvolle Schaffen dieses faszinierenden Theologen und Komponisten.

Dieter Schnebel war eine betörende Erscheinung. Im Alter mehr denn je, wie er alles und jeden anstrahlte, mit Buddha-Lächeln, das Gesicht vom zerzausten Haar umweht. Man hätte sich am liebsten wie ein Kind in seine Arme geworfen, um mit ihm lachen, weinen, reden zu können.
Raoul Mörchen hat ihn im Deutschlandfunk jüngst den „nettesten zeitgenössischen Komponisten“ genannt. Kaum zu glauben, dass dieser weise Alte einst auch Provokateur und Unruhestifter war. Während eines Gottesdiensts 1968 in Frankfurt soll er Schülern das Rauchen erlaubt und eine Vietcong-Fahne am Altar angebracht haben. In seinem „Konzert für einen Instrumentalisten und Publikum“ aus derselben Periode muss der Interpret das Publikum imitieren, bis es tobt. Wurde Schnebel altersmilde? Oder war das Rebellentum lediglich eine Stufe auf dem Weg zur Selbstverwirklichung? Unsere Videoauswahl zeigt jedenfalls: Ein humorvoller Freigeist ist Schnebel immer gewesen.



1. „Glossolalie 2000“ (erste Fassung 1959)
für 8 Vokalsolisten mit Instrumenten

Dieter Schnebel, geboren 1930 in Lahr im Schwarzwald, war studierter Theologe. Lange arbeitete er als Gemeindepfarrer, bevor er sich ganz dem Komponieren widmete. Steckt also missionarischer Eifer dahinter, wenn er ein Werk „Glossolalie“ tauft, das griechische Wort für „Zungenrede“? Eine konventionelle Heilsbotschaft ist das Werk jedenfalls nicht. Feurig predigen, das war nicht Schnebels Stil. Er misstraute dem gesprochenen Wort, die Nazizeit hatte auch in seiner Biografie Spuren hinterlassen.
In „Glossolalie“ behandelt er Sprache vielmehr als reine Klangäußerung. Rund vierzig verschiedene Sprachen durchmischt Schnebel zu einem furiosen Quodlibet, instrumentale Einwürfe machen das Chaos perfekt. Ein Schock für den Dekan seiner damaligen Kirchengemeinde, der Schnebel nach einer Radioübertragung zur Rede stellte: „Ich kenne Sie doch als vernünftigen Menschen. Wie kann ein vernünftiger Mensch solche Musik machen?"
Schnebel treibt es noch wilder. Im Chorwerk „Madrasha“ ist die menschliche Stimme nur eine Klangquelle von vielen, aus Lautsprechern schreien, fiepen und jaulen auch Wellensittiche, Hunde, Affen und andere Tiere. Schnebel ist dabei recht bibeltreu: „Alles was Odem hat, lobe den Herren.“



2. „Nostalgie – Visible Music II“ (1962)
für Solo-Dirigenten

Das ist doch keine Musik! Werke wie „Nostalgie“ werden schnell belächelt. Tatsächlich wirkt das Werk für Solo-Dirigenten wie Clownerie – der Interpret dirigiert ein unsichtbares Orchester, imitiert Allüren und Klischees. Das Gezappel wurzelt jedoch in philosophisch anspruchsvollen Fragen: Was genau ist Musik? Wo fängt sie an? Wo sind die Grenzen?
Dieter Schnebel hat „Nostalgie“ neben anderen Werken als „Visible Music“ bezeichnet. Er war überzeugt: Musik kann auch in der Fantasie entstehen, ohne reale Klangerzeugung. Zugleich ist das Werk eine Studie über Bezüge zwischen Bild und Ton. Er macht uns darauf aufmerksam: Der optische Eindruck beeinflusst unsere akustische Wahrnehmung. Nicht umsonst treten Pianisten in Anzügen auf und Rocker in zerfetzten Jeans.



3. „Maulwerke“ (1968-1974)
für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte
im Video: Trio-Version 1988

Die menschliche Stimme fesselt Dieter Schnebel nachhaltig. Noch akribischer als in „Glossolalie“ ergründet er das Phänomen ihrer Klangerzeugung in seinen „Maulwerken“. Er lässt Sänger keuchen, säuseln, schreien, jaulen, nimmt mal die Atmung, mal Kehlkopfspannungen oder Stimmsitz in den Fokus. Verstärkt und verfremdet werden die Klänge von Mikrofonen, auch der Einsatz von Videos und Dias ist vorgesehen. Typisch Schnebel: Trotz wissenschaftlicher Motivation stecken die Studien voller Komik.
Die Inszenierung im Video stammt übrigens von Achim Freyer. Der Regisseur war Mitgründer des Vokalensembles „Die Maulwerker“, das Dieter Schnebel 1977 zur Durchführung seiner performativen Experimente an der Hochschule der Künste in Berlin gründete. Ein Jahr zuvor war Schnebel als Professor für Experimentelle Musik an die Hochschule berufen worden.



4. „Zeichen-Sprache“ (1989)
für Gesten und Stimmen

Ebenfalls für die „Maulwerker“ konzipiert, intensiviert Schnebel in der Sammlung „Zeichen-Sprache“ seine Studien über den Menschen als „Instrument“. Es gibt ein Poem für zwei Rümpfe, für vier Köpfe oder einen Springer. Körperbewegungen und Gesten werden in roboterhafter Rhythmisierung entstellt und auf die Schippe genommen. Schnebel schreibt über die Sammlung: „Es handelt sich quasi um Körpergedichte, in denen jeweils einzelne und bestimmte Gliedmaßen einfache Bewegungen ausführen, und zwar in strenger zeitlicher Gestaltung. (...) Insgesamt also: musikalisierte Zeichen mit bildhaften Klängen.“



5. „Museumsstücke I“ (1993)
für bewegliche Stimmen und Instrumente in polyphonen Räumen

Die „Museumsstücke I“ wurden für eine Vernissage im Frankfurter Museum für Moderne Kunst komponiert und sind somit quasi die „Bilder einer Ausstellung“ des Dieter Schnebel. Inspiriert von den Kunstwerken schafft der Komponist äußerst lebendige Klanggebilde, als Ausführende greift er wieder einmal auf die Maulwerker zurück, die er mit zu Instrumenten umfunktionierten Alltagsgegenständen bewaffnet. In der Bauernszene werden Teller, Besteck und Gläser zu Schlaginstrumenten, ein rhythmisches Geklirre und Geklapper nimmt seinen Lauf, gewinnt an Tempo – und endet recht rabiat.



6. „Mit diesen Händen“ (1992)
für Stimme und Violoncello mit Rundbogen

Dieter Schnebel kann auch ernst. Geradezu erdrückend wirkt seine Komposition „Mit diesen Händen“ nach dem gleichnamigen Gedicht von Heinrich Böll. Der Text ruft Bilder aus dem Krieg ins Gedächtnis, wobei der stetig wiederkehrende Satz „Mit diesen Händen ...“ den Zusammenhang zwischen Mensch und Elend verdeutlicht. In der Version mit Stimme verzichtet Dieter Schnebel allerdings weitestgehend auf eine Deklamation des Textes, die Sätze verlieren sich in Gemurmel. Das Leid des Krieges, es lässt sich für Schnebel wohl nicht in Worten fassen.
Umso schwerer sind die Akkordbrocken im Violoncello, das durch die Verwendung eines Rundbogens alle Saiten zugleich anspielt. Die Botschaft dieses zermürbenden Klagegesangs transportiert sich dabei auch in der Fassung ohne Text.



7. „H-D – Harley Davidson“ (2000)
für 9 Motorräder und Trompete

Wer es als zeitgenössischer Komponist in die Lokalpresse schaffen will, kann (wie Stockhausen) ein Quartett für Hubschrauber komponieren. Dieter Schnebel wählt für sein Werk „H-D“ die kostengünstige Alternative: 9 Harley-Davidson-Motorräder und eine Trompete werden zur Besetzung seines Happenings, das Spielanweisungen wie „Fehlzündungen“ oder „Blinker an“ ebenso enthält wie rhythmisches Motorheulen. Ob es sich hierbei um das innovative Ausloten neuer Klangräume oder gutes Marketing handelt, sei dahingestellt. Ein großer Spaß ist es allemal.

© Titel: „Maulwerker“ performen Dieter Schnebel (Foto: Boriana Pandova)
© Kachel: Foto-Porträt von Dieter Schnebel (Foto: Hans Kumpf)


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