#klangprofil

Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

Von Sophie Emilie Beha, 24.01.2019

Weg vom Kindertisch

Musikvermittlung – inflationärer Hype oder Heilsversprechen. Erfüllt sie nach Jahrzehnten die Erwartungen? Das Gürzenich-Orchester geht mit gutem Beispiel voran, gerade feiert es das 20-jährige Jubiläum seines Education-Programms.

Gürzi hat Geburtstag! In wenigen Tagen steigt die Party für den Cartoon-Orchesterhund mit Klassik-Hits und frisch komponiertem Geburtstagslied in der Kölner Philharmonie. Seit 20 Jahren widmet sich das Gürzenich-Orchester mit „Ohrenauf!“ neuen, jungen Hörern, aber das Abonnement-Publikum ist immer noch ergraut. Wann erreicht Musikvermittlung ihr Ziel? Einfache Antworten dafür gibt es nicht, denn der Erfolg lässt sich nur schwer messen. Fragt man die Musikvermittlerinnen vom Gürzenich-Orchester, Catharina Starken und Svenja Hein, sind sich beide einig: „Wenn wir sehen, dass das Publikum gebannt ist, die Kinder ihr Herz öffnen und mit Haut und Haaren dabei sind.“ Besonders in den Schulkonzerten, wo die Schüler*innen oft einen Text auf ein bestimmtes Thema dichten, würde man ihnen diesen Spaß an der Musik anmerken. Aber muss Vermittlung automatisch Spaß machen? Stephanie Riemenschneider, Lehrbeauftragte für Musikvermittlung an der Universität zu Köln, betont die Komplexität der klassischen Musik, die Auseinandersetzung mit ihr dürfe auch anstrengen.

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Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

Durch Musikvermittlung hinterfragen Institutionen sich selbst.

Ob Musikvermittlung aus wissenschaftlicher Sicht funktioniert, lässt sich schwer beurteilen. Evaluation ist ein Dauerthema, die Musikvermittlungs-Bereiche aber sind meist so unterbesetzt, dass dafür keine Zeit bleibt. Zumindest quantitativ lassen sich im Fall von „Ohrenauf!“ Rückschlüsse ziehen: Alle „Ohrenauf!“-Veranstaltungen sind sehr schnell ausverkauft, oft kommen die Familien und Schulen wieder. „Die Nachfrage ist deutlich größer, als wir sie bedienen können“, erklärt Hein. Qualitativ sei das allerdings schwierig, es gibt keine Langzeitstudien und keine Methode, wie evaluiert werden soll. Für Riemenschneider ist es außerdem wichtig, dass Projekte auch scheitern dürfen. Da aber viele Geldgeber erfolgsorientiert fördern möchten, sei dies schwierig. „Wenn wir Gelder für Projekte bekommen, ist es nicht vorgesehen, dass nichts dabei herauskommt oder gesagt wird: Wir haben zwar auf der sozialen Ebene viel erreicht, aber die Kinder wollen sich die Musik trotzdem nicht anhören.“ Durch Musikvermittlung hinterfragen Institutionen sich selbst, davon kann sogar der gesamte Betrieb profitieren. Wenn ein Projekt nicht funktioniert, hilft die Fehlersuche, blinde Flecken zu entdecken. Scheitern kann auch Weiterkommen bedeuten.

Musik ist für jeden da, deshalb möchte „Ohrenauf!“ bewusst den Schritt aus dem geschützten Philharmoniezuhause in die Kindergärten und Altenheime der Stadt wagen, neue Räume erschließen, dem Hörer dort begegnen, wo er gerade ist. Neu in dieser Saison sind deshalb die „Unterwegskonzerte im Theater“, dabei wird „Peter und der Wolf“ von Sergei Prokofjew in einer Bearbeitung für Bläserquintett gespielt. Am Eingang zum metropol Theater in Köln reißt Catharina Starken die Karten ab. Im runden Kellerraum trennen wenige Meter die knienden Kinder von den Musikern, oder besser gesagt: Vogel, Katze, Ente, Wolf und Großvater. Peter wird von einer Schauspielerin in grüner Latzhose verkörpert, barfuß spaziert sie auf dem Fliesenboden um die Musiker herum. Die Grenzen zwischen Publikum und Bühne, Konzert und Musiktheater verschwimmen. Bei machen Projekten werden die Kinder selbst zu Akteuren: 300 Zweitklässler erarbeiten bei „Singen mit Klasse" zwei Monate lang ein Auftragswerk, das anschließend in der Kölner Philharmonie aufgeführt wird. In Zukunft soll der Fokus verstärkt auf solchen Partizipations-Projekten liegen.

„Ohrenauf!“

„Wir wurden ausgezeichnet, weil das Orchester in die Stadt geht und das gesamte Education-Programm von François-Xavier Roth geprägt und sehr engagiert getragen wird.“

Catharina Starken, Musikvermittlerin

„Ohrenauf!“ ist längst ein Vorbild. Im Jahr 2017 wurde das Gürzenich-Orchester mit dem „Junge Ohren Preis“ ausgezeichnet, dem Oscar der Musikvermittlung. Dieser Preis wird jährlich vom „Netzwerk Junge Ohren“ verliehen, einem Verein aus musikvermittelnden Institutionen und Einzelpersonen. „Wir wurden ausgezeichnet, weil das Orchester in die Stadt geht und das gesamte Education-Programm von François-Xavier Roth geprägt und sehr engagiert getragen wird“, erinnert sich Starken. Der Generalmusikdirektor spricht sich für die Werke der Orchesterkonzerte von „Ohrenauf!“ mit den Vermittlerinnen ab, bringt seine eigenen Ideen und Wünsche ein und sucht selbst aktiv Kontakt mit den Kindern, indem er Konzerte moderiert. Mit seinem Amtsantritt vor drei Jahren forderte er vom Gürzenich-Orchester, sich mehr der Gesellschaft zu öffnen. Von allen finanziert, für alle engagiert nimmt es so seine Verantwortung als gemeinschaftliche Einrichtung wahr. Es entstand ein Projekt zum Thema Flucht, bei dem Werke von György Ligeti, Arnold Schönberg, Kurt Weill und Igor Strawinski gespielt wurden.

Trotzdem richtet sich „Ohrenauf!“, wie die meisten Education-Programme, vor allem an Kinder und Jugendliche und im Musikvermittlungsalltag ähneln sich viele Formate: Probenbesuche und Schulkonzerte gibt es oft. Wo bleiben Kreativität, Krawall, Revolution? Riemenschneider betont den Kampf um die finanziellen Mittel, alle drei Musikvermittlerinnen die fehlende Manpower. „Ein größeres Team wäre natürlich schön. Es gibt unglaublich viele Ideen, die wir gerne realisieren würden. Von Jahr zu Jahr haben wir mehr Angebote – das ist toll, aber bedeutet auch mehr Arbeit in weniger Zeit“, erzählt Hein. Darunter dürfe die Qualität allerdings nicht leiden, deshalb werden Projekte wiederholt und überarbeitet. Das Gürzenich-Orchester ist ein Eigenbetrieb der Stadt , die Stellen sind somit an den Kölner Stellenplan gebunden. „Ein sehr langer Weg“, meint Catharina Starken. Und: „Wir arbeiten immer mit Hochdruck.“ Finanzielle Schwierigkeiten oder Ellbogenpolitik gäbe es nicht. „Wir haben ein relativ festes Budget, das sieht vielleicht an anderen Häusern anders aus.“ Auch bei Sonderformaten könne man immer diskutieren.

In der Vermittlungspraxis tritt die Musik oft in den Hintergrund und dient als Untermalung.

Musikvermittlung möchte neues Hören fördern, gleichzeitig aber auch neue Hörer generieren. Leere Sitzreihen findet vermutlich auch Gürzi nicht toll. Existiert der Hype deswegen, weil er sich verkauft? Damit der so oft prophezeite Untergang der Klassik aufgehalten oder aufgeschoben werden kann? „Früher war das auf jeden Fall so, vor allem in NRW“, erzählt Riemenschneider. Städte im Nothaushalt konnten so um Gelder werben. Heute wird das Musikhören im Konzertbetrieb eher um seiner positiven Nebeneffekte willen gefördert. So zeigen Studien, dass Menschen durch sie einander besser zuhören können und sozialere Wesen werden. Der pädagogische Anspruch, an die klassische Musik heranzuführen, dient bis heute als Feigenblatt, während in der Vermittlungspraxis die musikalischen Inhalte oft in den Hintergrund treten und Musik nur als Untermalung dient. Ihre Komplexität wird durch Anekdoten und Geschichten reduziert. „Oft werde ich dann aber der Musik nicht mehr gerecht. Man darf nicht grob simplifizieren,“ sagt Riemenschneider. Das passiere, weil den Hörern oft nicht genügend zugetraut wird, zu wenig Zeit und Personal vorhanden ist, aber auch, weil die Fähigkeiten der Musikvermittler oft nicht ausreichen würden. Riemenschneider würde sich freuen, wenn die Ausbildung an den Hochschulen sich verändern würde: „Musikvermittler müssen unbedingt auch selbst klassische Musik in ihrer Tiefe durchdringen, also zum Beispiel eine Partitur 251 lesen können.“

  1. Die Partitur ist das Buch der Musik: Ganz genau ist hier jedes Instrument mit seinen Noten niedergeschrieben, damit die Ideen und Visionen des Komponisten die Zeit überdauern und immer wieder zu klingender Musik werden können. Dass sich manches nicht gut notieren lässt – genaue Phrasierungen, Tempi oder Ausdruck zum Beispiel – gibt uns heute die Gelegenheit, herrlich über Interpretationsfragen zu streiten. (AV)

Die Verantwortung tragen aber nicht nur Musikvermittler, sondern auch Musiker wie François-Xavier Roth, laut Stephanie Riemenschneider, ein „Musiker, der in seiner Persönlichkeit Musikvermittler ist.“ Im Bereich der Neuen Musik gibt der Pianist und Komponist Marino Formenti Werkeinführungen am Flügel, wie einst Leonard Bernstein.
„Gutes Musizieren ist gute Musikvermittlung. Wenn sich alle Musiker mehr als Musikvermittler verstehen würden, bräuchte es uns vielleicht gar nicht“, meint deshalb Riemenschneider. Das wäre wünschenswert. Musikvermittlung soll kein Hype, sondern eine Grundhaltung sein, für alle. Sie muss den Kindertisch verlassen und den Klassik-light-Filter entfernen. Musik kann immense Relevanz besitzen, Leben verändern und eine großartige Bereicherung sein – jedem sollte die Möglichkeit gegeben werden, das erfahren zu können. Vermittlungsangebote sind zwar gut besucht, aber von dort zum Abonnementkonzert gilt es noch einen Graben zu überwinden.

© Fotos: Magdalena Spinn/Gürzenich-Orchester
© Zeichnung: René Siepmann


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