#klangprofil

Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

Von Thilo Braun, 27.12.2018

Massenmedienmühle

Noch nie hat das Gürzenich-Orchester so viele Menschen erreicht wie heute. Neue Kommunikationskanäle wie YouTube und Instagram stellen jedoch vor eigene Probleme, denn es fehlt an Zeit und Geld, sie professionell zu pflegen. Zugleich setzt die Kommunikation mit dem Publikum einen spannenden Selbstfindungsprozess in Gang.

Friso van Daalen sieht müde aus. Die erste große Erkältungswelle geht durch die Stadt, als wir uns an einem grauen Novembermorgen im Büro des Kölner Gürzenich-Orchesters treffen. Doch auch ohne Erkältung hätten einen die dunklen Ringe unter seinen Augen kaum überrascht. Denn das Arbeitspensum, das van Daalen bewältigen muss, ist immens. Als Leiter der Kommunikationsabteilung verantwortet er alle Druckerzeugnisse wie Saisonbroschüren, Plakate und Postkarten, dazu Facebook, Instagram, YouTube, die eigene Website, Newsletter, Fotoshootings. Unter anderem.
„Ich versuche natürlich, mal weniger zu arbeiten. Aber es ist eigentlich nie möglich“, sagt van Daalen. Vierzig Wochenstunden sieht sein Vertrag vor. Das reicht aber nicht, schon die Anwesenheit bei Konzerten und Events des Orchesters frisst Zeit. „Aber ich hab‘ auch zwei Kinder zu Hause und muss zusehen, dass ich die Balance schaffe. Irgendwie muss es halt gehen.“

Das Gürzenich-Orchester ist hier keine Ausnahme. Dass viele Marketingabteilungen der Orchester chronisch überarbeitet sind, ist ein offenes Geheimnis. Umso bemerkenswerter dabei: Viele dieser Stellen wurden erst in den vergangenen zehn Jahren geschaffen. Früher kümmerten sich einzelne Pressesprecher um die gesamte Kommunikation. Heute beschäftigen allein die Klangkörper des WDR eine ganze Redaktion zur Pflege Sozialer Netzwerke. Um zu verstehen, warum Zeit und Geld trotzdem überall fehlen, muss man sich das Ausmaß des Wandels vor Augen führen.

#klangprofil

Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

„Wir müssen uns überlegen, wie wir Content generieren können, damit die Leute bei der Stange bleiben. Und die Folgefrage ist dann: Wer macht das?“

Friso van Daalen

Früher war Marketing allein deshalb Nebensache, da die Konzerte ohnehin voll waren. Heute müssen Orchester um jeden Besucher kämpfen. Das liegt nicht nur am mangelnden Interesse an klassischer Musik in der Gesellschaft, sondern auch an der Vielzahl konkurrierender Angebote. Spätestens seit es Spotify und Netflix gibt, müssen gute Gründe her, um die heimische Gemütlichkeit zu verlassen und Geld in ein Konzertticket zu investieren. Die schlechte Serie ist mit einem Klick beendet, im Konzertsaal ist man zweieinhalb Stunden dem Geschehen ausgesetzt – ob es gefällt oder nicht.

Die Orchester müssen überzeugende Argumente finden, warum ein Konzertbesuch trotzdem lohnt. Und durchlaufen dabei einen spannenden Selbstfindungsprozess. Worin liegt eigentlich der Wert ihrer Arbeit? Was macht Konzerte einzigartig? Welches Bild hat das potenzielle Publikum vom Orchester – und finden sich die Musiker darin wieder?
Die Beantwortung dieser Fragen wird mit der Zunahme an Kommunikationskanälen dringlicher. Denn man ist sich bewusst: Trotz harter Konkurrenz hat etwa das Gürzenich-Orchester noch nie so viele Menschen erreicht wie heute. Im Live-Stream oder on Demand verfolgen weltweit tausende Nutzer die Konzerte, bei Instagram und Facebook stolpern sie über Fotos und Videos aus dem Probenalltag. Printpublikationen flattern weiterhin in die Briefkästen. Diese vielfältigen Möglichkeiten zu ignorieren, wäre idiotisch. Einerseits.
Andererseits will jeder neue Kommunikationskanal gepflegt werden. Wer bei Facebook nur sporadisch postet, verliert an Reichweite und verdirbt sich das Potenzial. Friso van Daalen weiß das. Und trotzdem bleibt es eine Herausforderung, auch sinnvolle Inhalte für die Postings zu finden: „Wir müssen uns überlegen, wie wir Content generieren können, damit die Leute bei der Stange bleiben. Und die Folgefrage ist dann: Wer macht das?“ Reine Werbung für Konzerte ist wenig sexy. Das Publikum will Geschichten, Bilder, Videos. Nur dafür braucht es wieder: Personal, Zeit und Geld.

Friso van Daalen stößt an seine Grenzen. „Ich kann das ja gar nicht alles schaffen“, gibt er zu. Oft müssen Instagram und Facebook nebenbei laufen, hier ein schnelles Video mit Kapellmeister François-Xavier Roth vor der Philharmonie, dort ein Bild aus den Proben. Professionell ist das nicht, aber besser als nichts. Van Daalen glaubt, dass es in Zukunft wichtiger wird, Arbeitsbereiche auszugliedern: „Wir können zwar viel selber machen. Aber es gibt Profis, die es besser können als wir.“

Das Nachdenken über Wünsche und Bedürfnisse des Publikums einerseits, die Identität des Orchesters andererseits, hat sich auch auf konventionelle Publikationswege ausgewirkt. Legt man die jüngste Saisonbroschüre des Gürzenich-Orchesters neben ein fünf Jahre älteres Exemplar, wirkt letzteres auffallend konservativ. Goldene Schrift neben schwarz-weißen Fotos, viel Text, klare Struktur, wenig Überraschungen. Die diesjährige Broschüre dagegen erinnert in ihrem farb- und fotoreichen Design schon an eine Kunstpublikation. Auf dem Cover sieht man den Kapellmeister François-Xavier Roth in Langzeitbelichtung glühende Linien durch die Luft wirbeln. Er dirigiert mit einem Leuchtstab in der Hand. Lightpainting nennt sich dieser fotografische Trick, der hier Bewegung und Emotionalität der Musik visualisieren soll.
Und es wird viel mehr gelacht. Wo früher die befrackten Orchestermitglieder samt Instrumenten in geradezu militärischer Perfektion fürs Gruppenfoto drapiert wurden, grinst heute ein fröhlicher Kapellmeister in die Linse. Auch die Orchestermusiker sieht man immer wieder in „Zivil“, lachend und scherzend, bei der Probenarbeit mit Roth. Die Arbeit beim Gürzenich-Orchester scheint ein großer Spaß zu sein. Laut Friso van Daalen sollen diese Fotos ein authentisches Bild von den Musikern und Menschen vermitteln. Die Anstrengung und Erschöpfung, die ebenfalls zum Orchesteralltag gehören, sieht man allerdings nicht – zumindest an dieser Stelle.

Von fünftausend Abonnenten hat sich bislang nur einer beschwert. Eine gute Quote.

Das Design vermittelt insgesamt den Eindruck eines dynamischen Orchesters am Puls der Zeit. Dabei wird das Publikum immer älter. Friso van Daalen ist sich bewusst, dass das neue Design möglicherweise nicht alle anspricht: „Nicht jeder im Publikum schreit nach Veränderung. Viele wollen das, was sie schon kennen.“ Das gilt fürs Design, aber auch für die Programme.

In einem Abonnementkonzert kurz vor Weihnachten steht in der ersten Konzerthälfte eine Deutsche Erstaufführung auf dem Programm: „Inscape“ von Hector Parra, ein Werk für Live-Elektronik und Orchester, das in Kooperation mit dem französischen Experimentalstudio IRCAM entstanden ist. Ein solches Werk ins Abonnement zu packen, ist riskant. Zwar wird der Saal voll – im schlimmsten Fall springen die Leute aber im nächsten Jahr als Abonnenten ab. Drum wird in allen Texten, von der Saisonbroschüre bis zum Programmheft, auf die Relevanz des Neuen und die geschichtliche Verantwortung des Orchesters verwiesen. „Was die Zeitgenossen noch als ‚verrückt‘ abtun, erkennen spätere Generationen oft als zukunftsweisend“, schreibt da François-Xavier Roth in seinem Vorwort über Robert Schumann, um dann elegant auf die geplanten Uraufführungen und Experimente der Saison überzuleiten.
Die Strategie scheint aufzugehen. Von fünftausend Abonnenten hat sich bislang nur einer beschwert. Eine gute Quote, weiß Friso van Daalen. Auch die Auslastungszahlen waren in den vergangenen Jahren stabil bei über neunzig Prozent.
Die negativste Äußerung, der ich in der Konzertpause begegne, ist das Statement eines älteren Herren: „Es war interessant. Aber nicht mein Fall.“ Viele andere sind dagegen begeistert, Jubelrufe mischen sich in den Applaus. Auch mein Sitznachbar, der mir vor dem Konzert noch beteuert, mit Neuer Musik eigentlich wenig anfangen zu können, ruft freudestrahlend aus: „Das war toll! Diese Klänge!“

Man kann darin die Relevanz der Kommunikation im Vorfeld bestätigt sehen. Wenn die Leute erst einmal da sind, kann man sie begeistern. Die Jugend für das Klassische ebenso wie die Konservativen fürs Moderne. Ein schickes Design kann dabei helfen, Hürden abzubauen. Aber es lässt sich auch sagen: Es waren weder das Design noch das Vorwort des Kapellmeisters, die meinen Sitznachbarn begeistert haben. Sondern ein phänomenales Musikstück, das von einem Orchester gespielt wurde, dem die Leidenschaft anzusehen war. Jede und jeder saß auf der Stuhlkante, hochkonzentriert und motiviert. Diese Begeisterung tragen die Zuhörer nach Hause, teilen sie mit ihren Mitmenschen. Und kommen mit Sicherheit wieder – vielleicht sogar samt Freundinnen und Freunden.

© Holger Talinski / Gürzenich-Orchester (Bildergalerie)
© Hartmut Naegele (Hero-Bild)


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.