Von Jesper Klein, 03.10.2019

Blasen-Bildung

Von der legendären Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz aus nimmt das Festival BAM die Strömungen des aktuellen Musiktheaters in den Blick. Ein Streifzug in sieben Thesen durch Trends und Probleme der Freien Szene

Wie verschmelzen Musik und Theater zu Musiktheater? Es ist die Gretchenfrage, die über dem BAM-Festival schwebt. Das Berliner Festival für aktuelles Musiktheater 137 , so die Langform, führte am vergangenen Wochenende die vielfältige Freie Szene Berlins zusammen. Ein Blick auf das Festival in sieben Thesen, Widerspruch erlaubt!

1. Es gibt auch im Musiktheater eine Berlin-Blase.

Das Berliner Kulturleben ist mit Sicherheit eines der vielfältigsten. Kreativschmiede, Treffpunkt für alle, die am Puls der Zeit wirken wollen. Die Kehrseite: Wer hier nicht mitspielt, ist außen vor. Dabei ist gerade für das vielfältige zeitgenössische Musiktheater mit seinen unzähligen Strömungen der Austausch immens wichtig. Auch bei BAM wird er gepflegt; in diesem Jahr durch eine Kooperation mit den Niederlanden, wo die Szene ähnlich in Blüte steht wie in Berlin. „Wir wollen diesen Brückenschlag unternehmen, auch um uns aneinander zu reiben“, sagt Roland Quitt, der künstlerische Leiter des Festivals.

2. Freies Musiktheater ist prekär.

Musiktheater ist teuer. Besonders der wachsenden freien Szene fehlt es an Geld. Daraus macht BAM keinen Hehl: „Die Arbeit der Freien Musiktheaterszene beruht noch immer zu großen Teilen auf finanzieller Selbstausbeutung ihrer Akteurinnen und Akteure. Als Festival können wir das auf die Dauer nicht mittragen“, sagt Quitt. „Ohne substanzielle Aufstockung unseres bisherigen Budgets werden wir wohl deshalb nicht weitermachen können.“ Trotzdem will Quitt das Festival langfristig in der Stadt etablieren. Eine Lösung ist nicht in Sicht, zumindest nicht in Berlin, wo Musiktheater aus dem Finanztopf der darstellenden Künste finanziert wird. Wird die Förderung erhöht, erheben alle Ansprüche auf ein größeres Stück Kuchen. Und ein eigener Topf für Musiktheater, wie es ihn in den Niederlanden gibt? Eher müsse man darauf achten, dem Nachwuchs nicht die Türen zu verstellen, so Quitt. Eine frustrierend charmante Lösung bietet BAM selbst an: In der Dauerperformance „Dolls“ (insgesamt 14 Stunden!) nudelt Sirje Viise im Puppentheater eine Oper nach der anderen herunter. Selbstironie kaum zu übersehen, besonders wenn nur ein paar Leute im Zuschauerraum sitzen.

  1. Singspiel, Oper, Melodram, Musical – das Auge hört überall mit! Denn Musik und Theater passen doch herrlich zusammen, oder? Dabei ist heute die Inszenierung die halbe Miete - wenn nicht mehr. Pappmaché-Burgen und Reifröcke werden von bedeutungsschwangeren Videoinstallationen abgelöst. Regisseure toben sich aus und geraten ins Fadenkreuz der Kritik, während Dirigenten sich in die Musik vergraben. Eine quirlige Welt mit viel Show&Shine! (KB)

3. Musiktheater darf Work in progress sein.

Es läuft nicht alles rund bei BAM, und irgendwie würde das zu diesem Festival auch nicht passen. Mal findet man einen Aufführungsort nicht, mal hält das Mikro nicht, mal startet das Video zu spät. Und manchmal fängt es dann noch an zu regnen und die Vorstellung auf dem Rosa-Luxemburg-Platz muss kurzerhand nach hinten verlegt werden. Alles nicht weiter schlimm, schlussendlich passt es zu den Arbeitsprozessen der freien Szene. Da wird in den Proben noch immer am Stück gefeilt, hier und dort feingeschliffen. Ohnehin nehmen Kollektive eine wichtige Stellung ein für die veränderten Arbeitsabläufe des Musiktheaters, die eine Besonderheit der Freien Szene sind. „Innerhalb des Sprechtheaters hat sich der Stadttheaterbetrieb inzwischen durchaus Formen geöffnet, die aus der Freien Szene kommen und hier entwickelt wurden – das gilt allerdings nicht im Feld des Musiktheaters“, sagt Quitt. Für diesen Freigeist, das Herz der freien Szene, in der Programmbroschüre so schön mit dem Adjektiv „ungezähmt“ beschrieben, nimmt man ein wenig Work in progress doch gern in Kauf.

4. Die vierte Wand ist durchbrochen.

Hier das Ensemble, dort das Publikum. Das gilt für wenige Aufführungen. „An die Stelle eines Bedürfnisses nach distanziertem Beobachten tritt im Theater heute immer mehr die nach direktem Beteiligtsein, nach einem ‚Mitmachen‘. Man kann sich fragen, wo das herkommt und welche Aussagen es über unsere Gesellschaft zulässt“, sagt Quitt. Am eindrucksvollsten demonstriert die Gruppe „Projekt Wildeman“, wie man mit dem Publikum auf Tuchfühlung geht. In ihrem Stück „Woekerpolis“ kombinieren sie auf sehr witzige Weise vorzeitliches Affengehabe mit dem Business-Dschungel. Verzweifelt versucht das sympathische Quartett Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen, doch auf das Nonsens-Gerede (oder steckt doch etwas Holländisch darin?) kommt selten eine Antwort zurück. Da klettern die Protagonisten glatt wie wild gewordene Affen über die Sitzreihen. Im zweiten Teil des Abends, einer Reise durch den Kosmos, kümmert sich die Crew dieser schrulligen Mission fast liebevoll um die „Travellers“, die sie zu Beginn aus dem Publikum auserwählt haben. Mit Rauchschwaden und pseudo-psychedelischen Steinlegeritualen. Davon möchte man gerne mehr sehen!



5. Es geht auch ohne Video.

Das Video ist aus dem Musiktheater nicht mehr wegzudenken. Auf den Bühnen der Welt wird projiziert, was das Zeug hält. Oft genug fragt man sich, ob man die Energie nicht vielleicht doch besser in ein hübsches Bühnenbild gesteckt hätte. Ganz ähnlich wie Film-Regisseur Christopher Nolan, der noch auf den analogen Film schwört. Wie auch immer man zu dieser Frage steht: Die Gruppe „Hauen und Stechen“ hat es für ihr Stück „The Whale Whale Song“ (das Greta Thunberg mit einer Flosse streift) geschafft, nicht eine einzige Videoprojektion zu verwenden. Stattdessen gibt es ein liebevoll gebasteltes Walfisch-Maul und sogar einen Seeigel. Vielleicht lag es auch am Budget. Trotzdem: dafür einen Sonderapplaus!

6. Instrumentenzerstörung ist immer noch in.

„Selbstauslöser“ heißt die zweistündige theatralische Musikinstrumentengeschichte, die Johannes Kreidler und Arno Lücker unter vollem Körpereinsatz auf die Volksbühne bringen. Da werden Instrumente zum Leben erweckt, es gibt eine Seilspringeinlage, Wortspiele und Witze bis zum Abwinken. Nein, beim Flügel kann man die Tastentöne leider nicht wie beim Handy ausstellen. In der „Sammlung der Instrumente kollektiven Unterbewusstseins“, im Video an die Wand projiziert, finden sich eine Posaune mit schier unendlich langem Zug und absurd miteinander verschmolzene Violoncelli. Dazu bewegen sich Klaviaturen wie Raupen durch den Raum. Wie wunderbar durchgeknallt! Aber braucht es wirklich die Zerstörungsperformance, bei der Gitarren zertreten und Blockflöten übers Knie gebrochen werden? Dann doch lieber weiter aus Amazon-Rezensionen zu verschiedenen Fahrradklingel-Modellen vorlesen. Das ist zwar weniger spektakulär, aber in all seinem Vergleichen von Bim, Ding und Dong viel, viel witziger.

„In seinen historischen Formen, denen der Oper also, ist das Musiktheater heute weitgehend internationalisiert. Es herrscht ein globaler Austausch an Sängern und Dirigenten, und das Basisrepertoire ist in allen Ländern weitgehend dasselbe. Was aber die zeitgenössischen betrifft, die Musiktheater in die Zukunft führen, verfolgen die verschiedenen Länder Europas ganz unterschiedliche Wege, ohne dass es zwischen ihnen einen nennenswerten Austausch gibt.“

Roland Quitt, künstlerischer Leiter von BAM

7. Musiktheater muss nicht immer nur experimentell sein.

Was ist das eigentlich, Musiktheater? Und wie sieht es in der Zukunft aus? Bei BAM gibt es die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten zu sehen, auch in der musikalischen Gestaltung: von elektronischen Beats (Woekerpolis, Nachtvlucht) über die klassische Oper (Dolls) bis hin zur Fortspinnung derselben (The Whale Whale Song). Das ist mal mehr und mal weniger experimentell. Am Ende steht die Erkenntnis, dass bei allem Experiment ein klug eingesetzter „Danse macabre“ von Camille Saint-Saëns, den man noch Tage danach auf den Straßen pfeift, genauso das richtige Mittel sein kann. Es ist gerade die Vielfalt der Zugänge, die dieses Festival so reizvoll macht. Die Geschmäcker sind bekanntlich ohnehin verschieden.

Das BAM-Festival

Zum zweiten Mal veranstaltete der Verein Zeitgenössisches Musiktheater Berlin (ZMB) vom 26. bis 29. September das Musiktheaterfestival „BAM!“ (gesprochen BÄM). Gespielt wurde in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und in einigen Spielstätten im Umkreis. Im Rahmen der Kooperation mit den „Operadagen Rotterdam“ gab es neben den Aufführungen ein Symposium zum Arbeiten im Freien Musiktheater in den Niederlanden und Berlin.

bam-berlin.org

© Marcus Lieberenz
© Bildergalerie (Bild 1 und 2): Quiet City


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