Das Fußballstadion ist heute der vielleicht einzige Ort der ungefilterten Emotionen. Schreien, Pöbeln, Grölen, Weinen – alles erlaubt! Während eines Fußballspiels gelten andere Regeln als im „normalen“ Leben, im Stadion gibt’s keine Hemmungen. Das funktioniert nur in der Masse, denn in unserer Welt der Individuen und Vereinsamten setzt so ein Gemeinschaftserlebnis zu Tausenden ungeahnte Energien (und oft auch archaische Charakterzüge) im Menschen frei. Vor allem, wenn man gemeinsam einem unbekannten Ausgang entgegenfiebert: Spannung, Leid, Triumph verstärken sich, wenn man sie teilt. Fußball ist ganz große Oper.
Und das sind nicht die einzigen Parallelen zwischen diesen vermeintlich so gegensätzlichen Welten. Ein Team mit unterschiedlichen internen Dynamiken und Konflikten; ein Trainer, der organisiert und motiviert; Spannungsdramaturgie über lange 90 Minuten mit Zugabe in der Nachspielzeit, Live-Nervenkitzel mit ungewissem Ausgang. Klingt irgendwie vertraut? Genau so funktioniert auch ein Orchester: Vom Chefdirigenten wird es auf eine Taktik eingeschworen, die im Live-Konzert aufgeht – oder eben nicht funktionieren will, flatternde Nerven inklusive. Nur dass man nicht gegen einen Gegner spielt, sondern gegen die eigenen Schwächen und Patzer. Und die Emotionen des Publikums in Philharmonie oder Konzerthaus sind auf stummes Mitfiebern heruntergedimmt, alles spielt sich im Inneren ab, still und heimlich.
Trotzdem: so viele Gemeinsamkeiten! Kein Wunder, dass der Fußball längst als Thema in der „Hochkultur“ – oder zumindest in der „Zwischenkultur“ – angekommen ist.
1. Komponist mit Schiedsrichter-Lizenz: Dmitri Schostakowitsch
Zum Beispiel bei Dmitri Schostakowitsch. Es fällt ein bisschen schwer, sich ihn im Stadion vorzustellen, den immer etwas verkniffen drein schauenden Russen mit seiner kleinen runden Nerd-Brille. Aber was für ein Fußballfan das war! Schostakowitsch reiste seinem Club – Zenit St. Petersburg – zu seinen Spielen hinterher und hatte die gesamte Mannschaft schon mal zum Abendessen zu sich eingeladen. Und er hatte sogar selbst eine Schiedsrichterlizenz!
Es liegt also nahe, dass er versuchte, seine Leidenschaft für den Fußball mit seiner Berufung, der Musik, zu verknüpfen. Das Ergebnis: das Fußball-Ballett „Das goldene Zeitalter“ über eine sowjetische Fußballmannschaft auf Auswärtsspiel anlässlich einer Industrieausstellung. Dort werden die Sportler von Diven verführt, von Spionen umschwärmt, auch ein indisch verkleideter Animateur, ein Faschist und ein spektakulärer Boxwettkampf spielen eine Rolle. Und die sowjetischen Mannen bleiben natürlich wacker und standhaft. Im Ernst?!?
Dmitri Schostakowitsch
Natürlich nicht. Das auf den ersten Blick sehr platte Werk entstand auf Wunsch des stalinistischen Regimes. Der Schriftsteller Alexander Iwanowski hatte 1927 einen Wettbewerb des Ministeriums für Kulturpropaganda gewonnen mit seinem sehr sozialistischen Fußball-Libretto, das Schostakowitsch 1929 und 1930 im Auftrag der Leningrader Theaterkommission vertonte. Und dass Schostakowitsch sich von dieser plakativen patriotischen Auftragsarbeit distanzierte, hört man in seinem vor Ironie schreienden Fußball-Ballett in jedem Takt. Denn Schostakowitsch nutzte die Gelegenheit, westliche Unterhaltungsmusik einzubauen, was im sowjetischen Regime natürlich streng verboten war: Jazz, Foxtrott und Cancan zum Beispiel. Und er hatte ja einen guten Grund dafür parat: Die Fußballer werden schließlich im Westen mit dieser Unterhaltungsmusik „verlockt“. Das eigentliche Fußballmatch in der Ballett-Mitte wird zum slapstickhaften Elenfantentanz:
So schuf Schostakowitsch in „Das goldene Zeitalter“ eine grandiose Hommage an die Musik der Zwanziger und Dreißiger: schwungvoll und mitreißend und zugleich überspitzt und grotesk. Doch der Spott war so offensichtlich, mit dem Schostakowitsch das Thema behandelte, dass das Werk bald nach der Uraufführung 1930 im Petersburger Kirow-Theater hastig in der Schublade des Stalin-Regimes verschwand.
2. „Fanlyrik“ für Sopran und Akkordeon: Moritz Eggert
Es gibt überraschend viele Belege dafür, dass das Thema Fußball auch heutige Komponisten zu Vertonungen reizt – zum Beispiel Benedict Masons Fußballoper „Playing Away“ von 1994. Vor allem aber Moritz Eggert schießt und zielt, gleich drei Mal: mit dem Stück „Jahrhundertspiel“, mit „Die Tiefe des Raumes“ (einem abendfüllenden Oratorium in zwei Halbzeiten plus Nachspielzeit) und dem Vokalstück „Ballack, Du geile Schnitte“. Das entstand 2006, als während der Weltmeisterschaft – dem unverhofften „Sommermärchen“ – die Fußballbegeisterung sich über das erhitzte und bierselige Deutschland ergoss.
Eggert erklärt zu dieser Komposition:
„Auf den Titel ‚Ballack du geile Schnitte‘ kam ich, weil einmal im (damals noch Olympia-) Stadion zwei weibliche Teenager ein Schild mit eben dieser Aufschrift beharrlich vor mir hochhielten. Leider wird es Ballack nicht gesehen haben, denn die Entfernung zum Platz war groß. Aber die Zeile habe ich mir gemerkt, und als mich ein Ensemble bat, Vorschläge für Stücke für den Fußballglobus zu machen, hatte ich die Idee, ein Stück mit ‚Fanlyrik’ zu schreiben, die ja oft die schönste ist."
Man kann die Komposition auf seiner Website anhören. Die Texte, die ein Solosopran hier, vom Akkordeon begleitet, rezitiert, singt oder schreit, entstammen alle aus Michael Ballacks Gästebuch auf seiner Homepage. Zum Beispiel: „Hey Balle!!! Ich will dir ja nicht in deine Entscheidung rein reden aber du solltest dich mal fragen wo deine ganzen Fans sind ich glaub nicht das es in Spanien so viele von uns gibt wie in Deutschland!“ Es ist ein Sammelsurium von Liebesschwüren, derben Beleidigungen und sachlichen Kommentaren der Ballack-Fans, die sich zum Teil gegenseitig zerfleischen. Ein Blick nicht nur in den Abgrund der Fan-Befindlichkeiten, sondern auch der deutschen Rechtschreibung und Zeichensetzung. Und Eggert vertonte das mit der elitären Süffisanz mancher zeitgenössischer Vokalkompositionen, in der jede Silbe vor Bedeutung fast zu explodieren scheint. Zugleich macht sich aber diese hoch artifizielle Musik durch die Banalität der „Fanlyrik“ über sich selbst lustig.
3. Es gewinnt natürlich: die Liebe! Paul Abraham
Auch eine Fußball-Operette schafft es unter die skurrilsten Partien zwischen Musik und Sport: „Roxy und ihr Wunderteam“ des österreichisch-ungarischen Komponisten Paul Abraham. Die Komische Oper Berlin brachte, als einziges Haus in dieser Saison, die Operette aus dem Jahr 1937 kürzlich frisch auf die Bühne und besetzte die Hauptfiguren mit dem grandiosen Trio der Geschwister Pfister. Die englische Braut, die von ihrer Hochzeit wegläuft und sich als Mann verkleidet mit der ungarischen Mannschaft im Traininslager am Plattensee versteckt, wird von einem Mann gespielt: ein queeres Verwirrspiel. Doch so werden von vornherein charmant das ganze, unwahrscheinliche Setting und die klischeebeladenen Genderbilder ironisch aufgebrochen. Als auch noch die Mädels aus einem Pensionat im Trainingslager zum Sommerurlaub auftauchen, nimmt das (amouröse) Chaos seinen Lauf ...
Ganz nebenbei wird in Abrahams Operette die Sportbegeisterung auf die Schippe genommen, die in der Nazi-Zeit auch durch Leni Riefenstahls Filme wie „Olympia“ propagiert wurde. Die leistungsfähigen, gestählten Körper der Männer, die tägliche Gymnastik der Frauen. Denn bei Abrahams Fußballmannschaft geht die Disziplin spätestens im Trainingscamp vollends verloren; und auch die Mädels aus dem Pensionat wollen so gar nicht zum Bild der gesitteten jungen Damen passen, das in der Nazi-Zeit als neues, altes Ideal wieder auftauchte.
Dabei wirkt zwar Abrahams Operette spritzig, witzig und voller guter Laune, doch manche Nummern hört man mit Beklemmung. Denn Abraham war als jüdischer Komponist in Österreich kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs sehr gefährdet und floh Ende der 30er über Paris und Kuba nach New York. Die Unsicherheit und existenzielle Angst scheint wie als versteckter Hinweis in manchen Songs anzuklingen. In einer der schönsten Liebesszenen von Roxy und Gjurka zum Beispiel, wenn die beiden singen: „Glückliche Reise, wer klug ist und weise, fährt lost und fragt nicht viel. Führt auch die Reise auf Nebengleise, man denkt nur an das Ziel.“
Im ungarischen Original der Operette handelte es sich im Übrigen um eine Wasserball-Mannschaft. Für die deutsche Fassung änderte Abraham die Sportart aus Marketingzwecken, denn in Österreich wurde die Nationalmannschaft seit 1931 wegen ihrer spektakulären Erfolge als „Wunderteam“ gefeiert. Der Plan ging auf: Die Operette begeisterte damals das Publikum, wurde dann aber durch die brutale Zensur der Nazizeit von den Spielplänen vertrieben. Geschichte kennt keine Fairness. Doch allmählich schafft es „Roxy“, sich die Bühne zurückzuerobern mit ihrem Revue-Charakter, der von der alten Walzerseligkeit der traditionellen Wiener Operette nichts mehr wissen wollen. Abrahams Fußball-Soundtrack ist der Foxtrott.
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