Die Blicke gehen oft zum Himmel in Heidenheim an der Brenz, einem kleinen Städtchen in Baden-Württemberg. Hält das Wetter? Kann draußen gespielt werden? Denn Herzstück der Heidenheimer Opernfestspiele ist der Rittersaal von Schloss Hellenstein. Die Ruine der mittelalterlichen Staufferburg ist an sich unspektakulär, liegt aber malerisch über der Stadt. Um 16 Uhr müssen die Veranstalter entscheiden, ob sie es draußen wagen. Am Premierentag von Wagners „Fliegendem Holländer“ ist die Sache allerdings klar, das erste Gewitter zieht bereits am Nachmittag krachend über die Hügel der Schwäbischen Alb. Für die Organisatoren aber kein großes Problem: In Heidenheim hat man den Luxus eines Festspielhauses, 2010 in wenigen Hundert Metern Entfernung eröffnet, mit guter Akustik. Direkt daneben: ein großes Hotel, in dem Künstler und Gäste logieren können. Im Festspielhaus – unterm Jahr als Congress Centrum und Mehrzweckhalle genutzt – wird im Sommer ein eigenes Bühnenbild gebaut, Technik und Catering gibt es sowieso, geprobt wird im Wechsel und je nach Wetter drinnen oder draußen. Das Risiko ist also minimiert, der Nervenkitzel überschaubar. Eine Luxus-Situation, meint auch Marcus Bosch, seit 2010 künstlerischer Leiter der Opernfestspiele. „Wenn man in Bregenz im Regen sitzt, sitzt man bei uns im Festspielhaus“, sagt er und freut sich.
Trotzdem sind viele Gäste enttäuscht, wenn sie für das Open Air Event anreisen und dann das lauschige Naturambiente ins Wasser fällt. Marcus Bosch hofft daher auch beim Interview kurz vor Premierenbeginn auf einen Regenguss zur Pause, um die Nörgler verstummen zu lassen. Denn „es wissen ja immer alle besser als das Wetteramt Stuttgart“, sagt Bosch schmunzelnd. Nicht nur Regen ist ein Problem, sondern gelegentlich auch die Kälte „auf der Schwäbischen Alb, die manchmal auch Schwäbisch Sibirien sein kann“, so Bosch. „Natürlich kann man sich bei 14 Grad als Zuschauer mit dem Mantel hinsetzen, aber der Cellist eben nicht. Da fehlt manchmal leider das Verständnis.“ Kalt ist´s nicht an diesem Premierenabend, dem Gewitter folgen noch weitere, das Publikum strömt ins Festspielhaus. Moderne, kastenförmige Architektur, ein großes Foyer und Terrassen zum Flanieren: Sehen und Gesehen werden, Sektglasgeklimper und viel Lokalprominenz.
Herzensmacht und Machtmissbrauch
Die Stuttgarter Philharmoniker spielten die Generalprobe noch draußen, jetzt setzen sie im Orchestergraben zur Ouvertüre 174 an, bei völlig anderen klanglichen Verhältnissen. Der stufenförmig nach oben ausgerichtete Saal ist voll bis auf den letzten Platz. Es braucht eine Weile, bis sich das Orchester akustisch aufeinander eingestellt hat, manchmal scheppern vor allem die Blechbläser etwas zu sehr, wackelt es in der Intonation. Dann aber wird der Klang zunehmend homogener, und Bosch trumpft auf. Er nimmt die Tempi flott, der Zugriff ist direkt, dramatisch – und die Stuttgarter Philharmoniker lassen sich mehr und mehr ein auf dieses Schauermärchen-Klangkino.
Eigentlich soll man sich seine Hits ja immer bis zum Schluss aufsparen. In Opernouvertüren wird diese Regel aber generell missachtet. Oft gibt es hier ein Medley der schönsten Melodien der folgenden Oper, manchmal aber auch neue musikalische Gedanken. Im Laufe der Zeit wurden Ouvertüren immer vielseitiger eingesetzt, außerdem durften manchmal, wie bei Tschaikowski, sogar Kanonen mitspielen! (MH) ↩
Die Bühne wird dominiert von Transportcontainern, schräg übereinander gelagert und mit großen schwarzen Plastikplanen verschleiert. Später werden sie enthüllt und zum abstrakten Schauplatz der Figuren, die mit Leitern zwischen den verschiedenen Ebenen hin und her kraxeln. Eine gewagte, moderne Ästhetik mit Industrie-Charme, ein Symbol auch für die Grundthemen der Oper: Unterwegs sein, Rastlosigkeit. Ein Bühnenbild, das für eine Schlossruine gedacht ist, „braucht eine große Kraft“, hat Bosch zuvor erklärt. „Man kann ja nicht einfach mit dem Raum spielen, dann müssten wir Ritterspiele machen. Das Bühnenbild des Holländers stellt einen ganz klaren Bruch zur Optik des Rittersaals dar.“
Natürlich sieht man sich an so einem Bühnenbild irgendwann satt, daher platziert der österreichische Regisseur Georg Schmiedleitner effektsicher andere visuelle Mittel und setzt vor allem auf das Spiel seiner Protagonisten: Der philharmonische Chor Brünn turnt in neonfarbenen Straßenarbeiter-Westen und Putzkostümen über die Bühne, Frauen wie Männer scheinen sich hier fröhlich der Konsumgeilheit Dalands auszuliefern, Sentas Vater. Der missbraucht auch seine Macht der Tochter gegenüber, indem er sie begrapscht und küsst. Senta (Inga-Britt Andersson mit einem beeindruckenden Rollendebüt) rebelliert und verwandelt sich mit wachsender Besessenheit in eine Rock-Göre mit Springerstiefeln und schwarzen Engels-Flügeln. Zum charismatischen, unheimlichen Holländer in schwarz gibt der tollpatschige Verehrer Sentas, Erik, das traurige Gegenbild eines biederen Langweilers. Er appelliert an Sentas Herz und wird von ihr grausam verhöhnt.
Am Schluss das große Blutbad: Senta erschießt (versehentlich) Erik, und der Steuermann schlitzt Sentas Vater die Kehle auf, während Senta und der Holländer ihr Glück mit einem Hollywood-Kuss besiegeln. Das sind irritierende Regie-Freiheiten von Schmiedleitner, sie fügen sich aber doch logisch in seine Lesart des Stücks: Durch diese Morde erst ist Senta erlöst vom emotionalen Druck Eriks, aber auch von der ödipalen Verbindung zu ihrem Vater. Senta ist frei. Das Premierenpublikum ist begeistert.
„Unser Anspruch ist, diesen Spagat hinzubekommen zwischen Open Air Spektakel und Musiktheater heute. Da machen wir keine Abstriche, in keinster Weise“, so Bosch zuvor im Interview. Die mediterrane Atmosphäre draußen inklusive (gelegentlichem) Vollmond, den Nachtvögeln und Glühwürmchen, von denen die Touristik-Beauftrage der Stadt bei der Führung über das Schlossgelände schwärmt, ist zwar ein wichtiges Lockmittel der Festspiele. Aber eben nicht das einzige. Denn Marcus Bosch setzt vor allem auf die Qualität der Produktionen und schafft es, die Festspiele in Heidenheim, die immerhin seit mehr als 50 Jahre bestehen, allmählich auch auf den Radarschirm der überregionalen Presse und von Opernliebhabern aus ganz Deutschland zu rücken.
Letztes Jahr kamen zu den Festspielen 18.500 Zuschauer in das abgelegene Städtchen, davon etwa ein Drittel von weiter als den angrenzenden Landkreisen. Um die traumhaften Auslastungszahlen dürften andere Festivals die Opernfestspiele ohnehin beneiden, sämtliche Vorstellungen des „Holländers“ waren schon vor der Premiere so gut wie ausverkauft. Vorschuss-Vertrauen für Bosch, der gebürtiger Heidenheimer ist. Die finanziellen Mittel haben sich seit Beginn von Boschs Zeit mehr als verdoppelt auf über zwei Millionen Euro, wobei auch die Eigenfinanzierung von 36 Prozent auf rund 60 Prozent angestiegen ist: ein Erfolgsmodell in der Provinz, während im ganzen Land nur über finanzielle Kürzungen und mangelndes Interesse geklagt wird.
Für Marcus Bosch, dessen Vertrag gerade bis 2025 verlängert wurde, hängen Kunst und Kommerz bei diesem Modell eng zusammen: Gezielt bindet er die Industrieunternehmen als Förderer und Multiplikatoren ein, netzwerkt und sucht Mäzene. Der von ihm gegründete „Gönnerclub“ 100 OHs (Bedingung: mind. 1000 Euro Beitrag pro Jahr) ist auf 100 Personen begrenzt, inzwischen gibt es eine Warteliste für diesen Club. Exklusivität als Lockmittel. Ein weiterer Förderverein unterstützt das Festspielorchester Capella Aquileia. Bei den „55 Aquileias“ ist die Mitgliedschaft schon für 555 Euro Mindestbeitrag pro Jahr zu haben. Zu den vier Hauptsponsoren der Festspiele zählen große lokale Firmen wie Voith und Hartmann, auf deren Industrieanlagen man vom Festspielhügel aus direkten Blick hat. Doch diese finanziellen Mittel ermöglichen es Bosch eben vor allem, erstklassige Sänger engagieren zu können, das handverlesene Festspielorchester Capella Aquileia für kleiner besetzte und historisch informierte Projekte, die Stuttgarter und Nürnberger Philharmoniker für die großen Schlachtrösser, Regisseure mit Visionen. Der Spagat ist – zumindest beim „Holländer“ – gelungen. Und die Zukunftsvision? „Ich hoffe, der Erfolg und das Vertrauen des Publikums gibt mir die Möglichkeit, in der großen Produktion nicht nur Blockbuster zu spielen, sondern auch abseitigere Wege vorsichtig zu gehen“, sagt Marcus Bosch dazu. Die Ruine wenige Meter weiter, in der modernes Musiktheater gemacht wird, ist dafür vielleicht genau das richtige Symbol: eine Erinnerung an das Alte, zum Leben erweckt durch das Neue.
Die Heidenheimer Opernfestspiele 2017
Die diesjährigen Opernfestspiele in Heidenheim (18. Juni bis 30. Juli) stehen unter dem Spielzeitmotto „Geheimnis“. Im Fokus stehen dabei vor alle die drei Musiktheater-Produktionen: Wagners „Fliegender Holländer“ in der Regie von Georg Schmiedleitner (Premiere war am 7.7.), Verdis frühe Opera buffa „Un giorno di regno“ in einer Inszenierung von Barbora Horáková Joly mit der Capella Aquileia (Premiere: 27.7.) und die Kinderproduktion „Tortuga“ rund um Piratengeschichten. Mit der Verdi-Produktion setzen die Festspiele ein auf insgesamt neun Jahre angelegtes Groß-Projekt fort, bei dem die unbekannten frühen Verdi-Opern bis hin zu „Macbeth“ dem Publikum vorgestellt werden sollen – in historisch informierter Spielweise und mit einer besonderen, auf Spiel und Requisiten beschränkten Ästhetik. Ein breites Publikum erreichen die Festspiele auch mit ihren Klassik-Konzerten, Jazzfrühstücken und Zeitgenössischem, mit Dinner-Events, Einführungsveranstaltungen und Education-Projekten. Das Programm für die nächste Saison wurde gerade bekannt gegeben: Unter dem Motto „Zuflucht“ befasst sich das Festival 2018 anhand von Verdis früher Oper „I Lombardi“ und seinem berühmtem „Nabucco“ mit einem beherrschenden politischen und sozialen Thema unserer Zeit.
Alle Termine und Tickets gibt es auf www.opernfestspiele.de.
© Oliver Vogel/Opernfestspiele Heidenheim
© Cristopher Civitillo (Porträt Marcus Bosch)