Von Anna Vogt, 08.04.2016

Angesetzt und abgeschossen

Streicherensemble & Hypnose? Oper & High Fashion? Bach und Boxkampf? – Klar passt das zusammen, findet das Berliner Solistenensemble Kaleidoskop. Und polarisiert mit seinen ausgefallenen Konzert-Konzepten.

Die Musiker des Berliner Ensembles Kaleidoskop sind so etwas wie die Cowboys der Klassik-Branche. Das Ensemble-Logo: eine Mischung aus Violine und Colt. Die Mission: Konventionen in die Wüste schicken, Ohren neu ausrichten, Sinne öffnen. Und so auch Musik neu und anders erlebbar machen, ob Renaissance oder 21. Jahrhundert, ob in der Begegnung mit anderen Künsten oder an bisher weitgehend unerhörten Orten. Wenn nötig, wird gern auch mal provoziert. Unbehagen und Ablehnung sind schließlich ziemlich produktive Kräfte, um ein Publikum dazu zu bringen, sich mal mit dem verstaubten Konventionen der vor sich hindämmernden Klassik-Welt auseinanderzusetzen – und mit dem eigenen Hören und Fühlen. Dafür spielt das Ensemble auch einfach mal in bunten Socken statt Konzertschuhen C.P.E. Bachs Sinfonien. Konzert-Benimmregeln? Who cares! Wirklich spannend aber wird es in den eigenen Formaten: Performances , Musiktheatern 137 , Klang-Installationen . So wie bei „Black Hole“ Ende Februar in den Berliner Sophiensälen.

  1. Singspiel, Oper, Melodram, Musical – das Auge hört überall mit! Denn Musik und Theater passen doch herrlich zusammen, oder? Dabei ist heute die Inszenierung die halbe Miete - wenn nicht mehr. Pappmaché-Burgen und Reifröcke werden von bedeutungsschwangeren Videoinstallationen abgelöst. Regisseure toben sich aus und geraten ins Fadenkreuz der Kritik, während Dirigenten sich in die Musik vergraben. Eine quirlige Welt mit viel Show&Shine! (KB)

Weihrauchgeschwängerte Luft wabert im Foyer, üppig verwelkte Blumen verströmen Begräbnis-Duft, später wird man eingelassen in den Saal, zu einem Requiem der besonderen Art. Gemeinsam mit dem Hypnotiseur Martin Eder hat das Ensemble eine Art kollektives Trauerritual entwickelt, einen soghafter Mix aus Klängen, Lichtern, Bewegung. Und alles zirkuliert im Raum, rund um einen anfangs halb verschleierten, später offenen Kubus, um den verteilt das Publikum Platz genommen hat; Es entsteht eine Art Sound Box, in der Klänge sich treffen, miteinander kommunizieren, kollidieren, in der sich plötzlich reinster, versöhnlicher Chorgesang erhebt (Überraschung: die Instrumentalisten können auch glasklar singen!). Im zweiten Teil der Performance wird auch die ohnehin brüchige Grenze zum Publikum behutsam eingerissen, als Martin Eder und Mitglieder des Ensembles einen Teil der Anwesenden in der Mitte in Hypnose versetzen und auf schwarze Matten gleiten lassen. Ein kollektiver Zustand tiefer, wacher Entspannung macht sich breit, während eine Lichtlinie den Raum in Diesseits und Jenseits zu teilen scheint. Für manche Teilnehmenden ist das zu viel Eingriff in die Privatsphäre, zu viel Nähe, und sie verlassen den Raum. Der Großteil aber des bunt gemischten, überwiegend jungen Publikums lässt sich unvoreingenommen ein auf dieses Klang-Emotions-Hypnose-Experiment. Klar: Ein extravagantes Ensemble wie das Kaleidoskop hat auch ein besonderes, ein offenes Publikum.

Das Ensemble Kaleidoskop hat sich spezialisiert auf solche experimentellen Formate. Und gilt damit längst als eine der spannendsten Formationen auf diesem Gebiet, obwohl es in diesem Jahr erst zarte zehn Jahre alt wird. 2006 wurde es in Berlin als reines Streicherensemble gegründet. Bei Bedarf holt man sich aber Bläser-Verstärkung dazu. Gespielt wird gern auch in kleinsten kammermusikalischen Besetzungen. Denn einer der größten Vorteile dieser Formation ist zweifellos: Sie passt sich dem Konzept an, nicht umgekehrt. Und macht damit die unterschiedlichsten Programme möglich, auch weil es hier keine Unterscheidung gibt zwischen Solisten und Tuttisten , alle können alles, sind Performer, Akteure, tragen die oft ausgefallenen Konzepte mit, komme was wolle.

Konzert-Benimmregeln? Who cares!

Doch die letzten Jahre ging es immer wieder an die Substanz, denn das kleine Streicherensemble stand mehrfach vor dem finanziellen Aus. Zumindest für 2016 können die Musiker erst mal aufatmen: Die Berliner Kulturverwaltung hat für dieses Jahr nun doch noch eine strukturelle Förderung bewilligt. Freie Szene bedeutet eben immer auch Kampf: um Gelder, um Anerkennung, um Publikum fernab des Mainstream. Umso faszinierender sind der Biss, die Kreativität und die Professionalität, mit der hier ein Musiker-Kollektiv seine Visionen und Ideen umsetzt, allen widrigen Bedingungen zum Trotz.

Die Ideen zu den meisten Produktionen kommen von den künstlerischen Leitern Michael Rauter und Tilman Kanitz, der die Position zum Jahreswechsel von Daniella Strasfogel übernommen hat. Beide spielen zugleich auch als Musiker in diesem Ensemble, kennen die Bedingungen und Besonderheiten der Probenarbeit, sind mitten drin und Macher, nicht von außen kommende Denker. Und natürlich arbeitet man eng zusammen mit Künstlern aus anderen Bereichen, mit Tanz-Ikone Sasha Waltz zum Beispiel oder mit Kreativköpfen wie Susanne Kennedy, Laurent Chétouane und Sabrina Hölzer. Gern und oft wird im „Radialsystem“ gespielt mit seinen variabel einsetzbaren Räumen am Berliner Spreeufer inmitten der spröden Industrie- und Clubbing-Gegend rund um den Ostbahnhof. Oder in den Sophiensälen im schicken Berlin-Mitte, aber das Ensemble ist auch in Kunst-Galerien und natürlich bei Festivals wie dem Holland Festival oder der Ruhrtriennale regelmäßig zu Gast. Ob man dabei den Verbindungen zwischen empfindsamer Musik und Boxkampf nachspürt („Mike Tyson – the sensitive style“), zwischen Musik und Hypnose bzw. Trance wie in „Black Hole“ oder eine Barock-Oper 27 in schriller Couture-Kleidung von Viviane Westwood auf einem Endlos-Laufsteg aufführt wie bei den Herrenhausen Festspielen in Hannover: Immer wieder gelingt es dem Ensemble Kaleidoskop, sein Publikum zu überraschen mit einem überzeugenden Mix der Künste. Das macht oft Spaß und ist inspirierend, schießt manchmal aber auch übers Ziel hinaus. Doch neue Kunst muss polarisieren und darf auch mal scheitern – das ist der Preis fürs Experiment.

  1. Reifrock, Puder, Mätressen und Schampus. Willkommen im Barock. Musikalisch endet diese Epoche mit dem Tod von Johann Sebastian Bach. Die Musik ist mathematisch komplex geführt, ergötzt sich an Verzierungskunst und wurde häufig für die Kirche komponiert. Der Barock bietet aber mehr als Schwulst und Erhabenes. (CW)

Neue Kunst muss polarisieren und darf auch mal scheitern – das ist der Preis fürs Experiment.

Grenzen übergreifend und eben nicht exklusiv ist auch das Repertoire des Ensembles, das vom Frühbarock bis zu zeitgenössischer Musik reicht. In Zeiten des Spezialisierungswahns, in dem Propheten der Alten Musik und Profis für Neue Musik 107 sich meist nur abschätzig aus der Ferne mustern, ist ein Konzept wie das des Ensembles Kaleidoskop schon mutig: Ebenso leidenschaftlich wie informiert widmen sie sich der Empfindsamen Schule um C.P.E. Bach, den Sinfonien von Haydn, aber eben auch der Kompositions-Avantgarde von Xenakis, Ligeti oder Haas. Und alles mit völliger Hingabe. So lassen sie in ihren Musiktheatern gern mal unterschiedliche Musik-Epochen miteinander kollidieren. Aggressiv ist das nur selten, sondern meistens schlicht Ohren-öffnend. Denn ein Renaissance-Kirchengesang von Ockeghem entfaltet einfach eine krasse Wirkung, wenn er nach einem atonalen Ligeti-Streichquartett erklingt.
Kein Wunder also, dass auch die erste eigene CD „Hello I´m Solistenensemble Kaleidoskop“, die 2014 beim Label Ars Produktion erschien, diese Vielfalt widerspiegelt: Werke von Vivier, Haas und Xenakis treffen auf Haydns Sinfonia Nr. 64. Damit zeigt man nicht nur, was man kann, sondern will auch „Gegensätze und Spannungsfelder, aber auch Zusammenhänge zwischen verschiedenen Epochen und Klangsprachen“ aufzeigen. Klingt erst mal brav in der Beschreibung, ist aber eine explosive Mischung von Klangwelten - und eine tolle musikalische Visitenkarte dieser Musik-Pioniere.

  1. Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ)


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Claude Vivier, Georg Friedrich Haas, Iannis Xenakis, Joseph Haydn

Hello I’m Solistenensemble Kaleidoskop

Solistenensemble Kaleidoskop, Tammin Julian Lee

Ars Produktion



Happy Birthday, Kaleidoskop!

Der 10. Geburtstag muss gefeiert werden! Aber natürlich reichen Geburtstagstorte und Luftballons dem Ensemble Kaleidoskop nicht aus. Stattdessen schenkt es sich und seinem Publikum eine vierteilige Konzertreihe und sucht dabei nach neuen „Hörräumen“. Und das nicht etwa in Konzertsälen oder Kirchen, sondern in besonderen Berliner Galerien. Unter dem programmatischen Titel „Unmöglichkeit I-IV“ soll es um Fragen gehen wie: Wann wird Geräusch Musik? Wie lassen sich musikalische Standpunkte vermitteln? Welche Unmöglichkeiten des gemeinsamen Musikmachens existieren? Aber natürlich widmet man sich diesen vor allem mit den Sinnen, nicht dem Gehirn: Durch die unterschiedlichen Räume, Bühnensituationen, durch ungewöhnliche Aufstellungen werden Klang und Kommunikation zur immer neuen Erfahrung. Denn Antworten, das suggeriert der Titel der Reihe, wird es auf diese Fragen sowieso nicht geben. Aber Impulse zum Nachdenken, zu einem neuen Hören, Raum-Klang-Experimente. Besser als Geburtstagstorte!

Noch am 15. & 16. 4. Im Studio Picknick, 28. & 29. 4 in der Sammlung Hoffmann und 11. Juni im KINDL (Zentrum für zeitgenössische Kunst), alle in Berlin. Weitere Informationen unter www.kaleidoskopmusik.de.

© Sebastian Bolesch
© Gerhard F. Ludwig


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