Von Thilo Braun, 06.03.2018

Stillstand

Es gibt Tage, da kommt man nicht aus dem Quark. Jede Bewegung kostet unendlich viel Energie, geliebte Dinge schmecken fad, nicht einmal eine gepflegte Melancholie will sich einstellen. Um den Zustand alles erdrückender Lethargie soll es in dieser Playlist gehen.

Warum es nützlich sein könnte, diesem doch kaum erstrebenswerten Gefühl auf den Grund zu gehen, hat Rainer Maria Rilke in ein paar Zeilen formuliert, die mir schon oft Trost gespendet haben:

„Ich habe mich oft gefragt, ob nicht gerade die Tage, die wir gezwungen sind, müßig zu sein, diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen?
Ob nicht unser Handeln selbst, wenn es später kommt, nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist, die in untätigen Tagen in uns geschieht?
Jedenfalls ist es sehr wichtig, mit Vertrauen müßig zu sein, mit Hingabe, womöglich mit Freude.“

Den musikalischen Impuls zur Playlist hat der zweite Satz von J.S. Bachs erstem Cembalokonzert gegeben. Ich kenne wenig Musik, die sich so mühsam voranschleppt wie das Unisono-Thema zu Beginn. Die Kraft des Solisten reicht gerade mal für eine Melodie in der rechten Hand. Wo ist sie nur, die überbordende Energie des ersten Satzes, der Tatendrang von gestern? An solchen Tagen fühlt man sich fremd im eigenen Körper. Man irrt verloren durch die (Gedanken-)Leere wie der Wanderer in „Auf dem Flusse“ aus Schuberts Winterreise. Seinen einst so fröhlich rauschenden Begleiter erkennt er unter einer dicken Eisschicht nicht wieder und sehnt sich alte Tage herbei, in denen Welt und Herz noch Wärme kannten. Das Arrangement von Hans Zender habe ich hier dem Original von Schubert vorgezogen, weil es die befremdliche Distanz zwischen Erinnerung und Gegenwart so gut hörbar macht. Erstarrte Liegetöne hängen an den Strophen wie Eiszapfen, unbarmherzig knallen Blechbläser ihre Einsätze heraus, während das Holz die Momente des Erinnerns mit sarkastischer Häme kommentiert.

„Es lässt sich ausgezeichnet leben mit dunklen Schleiern vor dem Gesicht. Und das, was sich nicht heben lässt, das heb’ ich eben nicht.“

Gisbert zu Knyphausen

Der Moment, in dem der Kopf die fruchtlose Lage erkennt, ohne Herz und Seele daraus befreien zu können, bringt Gisbert zu Knyphausen wunderbar in seinem Lied „Hey“ auf den Punkt. Der Text behauptet: „Alles ist ok.“ Doch die brodelnden Einsätze von Schlagzeug und E-Gitarre verraten die Zerrissenheit und Wut im Innern. Man glaubt es daher nicht so recht, wenn Gisbert den Schluss zieht: „Es lässt sich ausgezeichnet leben mit dunklen Schleiern vor dem Gesicht. Und das, was sich nicht heben lässt, das heb’ ich eben nicht.“

Der Komponist Hugo Wolf soll sich über zwei Jahre in einer solchen Starre befunden haben. Etliche angefangene Kompositionen bleiben in den Jahren 1892 bis 1894 unvollendet. Ein Zustand, der Wolf verständlicherweise zu schaffen macht: „In mir ist alles wie erstorben, nicht der leiseste Ton will erklingen, still und öde ist es in mir geworden, wie auf einem beschneiten Leichenfelde.“ 1892 schafft er es immerhin, seine Italienische Serenade, eigentlich ein Werk für Streichquartett, für kleines Orchester zu bearbeiten. Ich meine, in der geradezu zwanghaften Ausgelassenheit dieser Musik einen verzweifelten Trotz heraushören zu können, wirklich ehrlich empfinde ich nur einige melancholische Einschübe.
Robert Schumanns Lied „Wehmut“ nach Eichendorff wirkt da wie ein Blick hinter die Fassade: „Ich kann wohl manchmal singen, Als ob ich fröhlich sei, Doch heimlich Tränen dringen, Da wird das Herz mir frei.“

„Was frag ich viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin?“

aus „Die Zufriedenheit“ von Johann Martin Miller

Aus solcher Lethargie hilft manchmal nur ein großer Knall: Jean-Philippe Rameaus Ouvertüre der Oper „Zoroastre“ unter dem wahnsinnigen Dirigat von Teodor Currentzis leistet hier gute Dienste. Unbarmherzig prasseln Staccatotöne auf uns ein, zwingen zur Reaktion. Danach sind die Nebel des Nichtstuns plötzlich durchbrochen, und wenn wir unsere Umgebung bei Licht betrachten, müssen wir uns eingestehen: Die Zufriedenheit war vielleicht gar nicht so fern wie geahnt.


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