Am Streaming führt kein Weg vorbei. Das musste auch das Label ECM einsehen, als es im November 2017 widerwillig seinen Katalog für alle großen Streamingdienste öffnete. Jahrelang hatte Gründer Manfred Eicher an physischen Tonträgern festgehalten, ein zwanghafter Versuch, im schnelllebigen digitalen Zeitalter beständigere Formen des Musikhörens zu bewahren. Damit ist er gescheitert: „Although ECM’s preferred mediums remain the CD and LP, the first priority is that the music should be heard“, heißt es etwas deprimiert in der Pressemitteilung des Labels. Wenngleich offiziell Onlinepiraterie als Grund für das Einknicken genannt wird, schleicht sich angesichts stetig sinkender CD-Verkäufe einerseits und eines boomenden Streamingmarktes andererseits der Verdacht ein, dass es auch andere Gründe für das Einlenken gab. Was nützt der schönste Idealismus, wenn er den Zeitgeist ignoriert? Wenn eine Verweigerung des Musikstreamings die Gefahr birgt, mittelfristig in die Bedeutungslosigkeit abzudriften?
Komplexe Kunst wird zum Alltagshelfer
Auf den sozialen Netzwerken reagierten die Nutzer enthusiastisch auf die Meldung. Endlich konnten hunderte Alben von Künstlern wie Keith Jarrett, Gidon Kremer oder András Schiff gehört werden, ohne gleich eine CD kaufen zu müssen. Schon am Tag nach der Bekanntgabe wimmelte es vor Best-of-ECM-Playlists bei Spotify.
Als Musikliebhaber gibt es ja auch kaum Gründe, auf die großen Streamingdienste zu verzichten. Für schlappe zehn Euro pro Monat bekommt man Zugriff auf über 30 Millionen Titel, das ist einfach phänomenal. Und doch geht etwas verloren. Denn zu einer tiefergehenden Beschäftigung mit Musik lädt diese Vielfalt keineswegs ein, ganz im Gegenteil. Wer in den Klassik-Bereich bei Spotify navigiert, erlebt die massenhafte Verscherbelung hochkomplexer Kunstwerke zu Alltagshelfern. Da gibt es Playlists für alle Gelegenheiten: zum Aufstehen, zum Lernen, für romantische Stunden – oder wilde Sammelcontainer wie „Klassik, die man hören muss“ (falls Interesse besteht, vom Pachelbelkanon aus mozartklavierkonzertplätschernd in Tschaikowskis „Schwanensee“ zu schunkeln und sich dann von Karajan und Anne-Sophie Mutter Vivaldis „Frühling“ eintrichtern zu lassen).
Und doch wäre es falsch, das Musikstreaming selbst zum Problem zu erklären. Was für ein gewaltiges Potenzial auch für die Klassikszene in dieser Technologie stecken kann, lässt die virulente Start-Up-Szene erahnen.
Spezialisierte Klassik-Streamingdienste nehmen zu
Gute zweieinhalb Jahre ist es her, seit Konzertagent Till Janczukowicz und der ehemalige Simfy-Gründer Christoph Lange auf den Salzburger Festspielen mit Idagio eine rein auf Klassik spezialisierte Streaming-Plattform starteten. Mittlerweile haben sie 45.000 Nutzer in über siebzig Ländern von ihrem Produkt überzeugt, wenngleich nur schätzungsweise jeder Zehnte davon Bezahlkunde ist.
Im Vergleich zu Spotify oder apple Music bildet Idagio die Nutzungsarten klassischer Musik besser ab. Berieselungs-Playlists gibt es hier auch, nur wird dieser unkomplizierte Zugang durch weitere Informationen ergänzt. Wer will, findet ebenso weiterführende Texte zu Werken und Entstehung, geschrieben von Experten und Musikliebhabern. Außerdem sind alle Werke mit spezifischen Metadaten wie Komponist, Gattung, Ensemble oder Instrument versehen, sodass viel spezifischer gesucht und verglichen werden kann.
Klassik-Streamingdienste im Überblick
Im November 2017 erreichte Idagio einen wichtigen Meilenstein: Eine erfolgreiche Finanzierungsrunde brachte acht Millionen Euro ein, womit endlich auch das Geld da war, bei den Major-Labels in Vorkasse zu gehen und deren Aufnahmen bei Idagio anzubieten. In nur einem Jahr hat sich der Katalog auf 500.000 Titel verzehnfacht, wöchentlich kommen rund 15 000 neue dazu.
Grammofy musste die Schotten dicht machen
Weniger Glück hatte das Start-Up Grammofy, das ebenfalls 2015 gegründet wurde und nun, im Oktober 2017, den Dienst einstellen musste. Noch stärker als Idagio hatte sich Grammofy auf kuratierte Playlists fokussiert. Fast jedes Werk war durch einen Audiopodcast in einen thematischen Kontext eingebettet. In Kombination mit einem grellbunten Design sollten vor allem jüngere Zielgruppen erreicht werden.
Natürlich gehört es zum Alltag im Start-Up-Geschäft, dass eine Vielzahl der Neugründungen bereits in den ersten Jahren scheitern. Grammofy befand sich wohl in einem Teufelskreis: Um weitere Kunden an Land zu ziehen und den Dienst zu perfektionieren, musste dringend mehr Geld auf den Tisch. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Investoren zunächst eine gewisse Nachfrage auf Kundenseite sehen wollten, um am Ende nicht auf den Kosten sitzen zu bleiben. Dass die Anzahl junger Leute, die bereit wären, für klassische Musik Geld auszugeben, mikroskopisch gering ist, machte die Sache noch komplizierter.
Wenn ein Dienst wie Grammofy zudem noch die intensive Beschäftigung mit speziellen Werken als besonderen Schwerpunkt wählt, wird die Gruppe noch kleiner, da etliche Klassikhörer vermutlich auch mit dem funktionalen Angebot von Spotify oder Qobuz zufrieden sind. Das bedeutet nicht, dass ein Dienst wie Grammofy grundsätzlich zum Scheitern verurteilt wäre, nur braucht es eben viel Zeit und Geld, eine solch spezielle Zielgruppe zu erreichen und zu binden – im Start-Up-Geschäft hat man leider meist von beidem wenig.
Eine Mitschuld am Scheitern von Grammofy müssen sich wohl auch die Major-Labels eingestehen. Deren hohen Vorauszahlungen konnte sich das Start-Up nicht leisten, weshalb der Katalog überschaubar und somit für Nutzer nur begrenzt interessant blieb. Dabei wäre ein Dienst wie Grammofy nicht nur eine gute Möglichkeit gewesen, jüngere Zielgruppen zu erreichen, sondern auch, neue Konzepte im Streamingmarkt zu erproben.
Feinkostladen statt Supermarkt
Mehr Mut zum Risiko zeigt das Label Outhere Music, das kurzerhand einen eigenen Streamingdienst ins Leben gerufen hat: alpha Play. Was die Größe des Katalogs angeht, fällt der Dienst mit 35.000 Titeln weit hinter Idagio zurück (von Qobuz, apple Music und Spotify ganz zu schweigen).
Veronika Lindenmayr, Pressesprecherin von Outhere Music, stellt jedoch klar, dass die Größe des Angebots nie ausschlaggebendes Kriterium war: „Ich glaube, man kann das relativ schnell auf den Punkt bringen, indem man den Aldi mit dem handverlesenen Sortiment eines Feinkostladens vergleicht.“ Soll heißen: Es gibt zwar nur Aufnahmen aus dem eigenen Bestand und von ein paar anderen Independent-Labels, dafür kann der Nutzer ein gewisses künstlerisches und aufnahmetechnisches Niveau erwarten. Das Label Outhere Music fungiert somit als Qualitätssiegel und bietet damit eine Alternative zur Reizüberflutung der großen Dienste. Außerdem kann man von jedem Album das CD-Booklet ansehen, ein Service, den (bislang) bis auf Qobuz keine andere Plattform anbietet.
Während eigenständige Streamingdienste oft 80% der Einnahmen an Labels und Verwertungsgesellschaften auszahlen müssen, kann Outhere Music mit alpha Play auf Grund des eigenen Katalogs mehr Geld im Unternehmen behalten und kommt so mit vergleichsweise niedrigen Investitionen aus. Ob sich genügend Nutzer finden werden, um den Dienst rentabel zu machen, ist allerdings eine andere Frage.
Doch mit dieser Herausforderung ist alpha Play auf dem Streamingmarkt in guter Gesellschaft. Selbst Marktführer Spotify schreibt Jahr für Jahr rote Zahlen, trotz Umsätzen in Milliardenhöhe und über sechzig Millionen Bezahlkunden. Idagio bräuchte nach eigenen Angaben Premium-Abonnenten im sechsstelligen Bereich, um die Gewinnschwelle zu überschreiten. Momentan fehlen dafür noch zwei Nullen vor dem Komma.
Ist das Streaming-Modell also nichts als eine große Blase, die über kurz oder lang platzen wird? Dass alle Player auf dem Markt die nächsten Jahre überleben, ist jedenfalls unwahrscheinlich. Dennoch zeigt das Beispiel Spotify, dass sich die kontinuierliche Verbesserung des Dienstes auszahlen kann, denn die Anzahl derer, die den Streamingdienst nutzen, ist in den vergangenen Jahren exponentiell gestiegen. Die Unternehmensverluste lassen sich zu großen Teilen durch den enormen Wachstum und daraus resultierenden Entwicklungs- und Optimierungsbedarf erklären. Das Geld, das heute ins Streaming-Geschäft fließt, kann also zu großen Teilen als Forschungszuschuss betrachtet werden, um einen noch jungen Markt immer besser zu verstehen. Es wäre wünschenswert, wenn auch die Major Labels in größerem Maße Experimente in Kauf nehmen würden, anstatt Newcomern durch hohe Vorabzahlungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn wenngleich die fetten Jahre auch bei den Majors lange vorbei sind, birgt die Bereitstellung des Katalogs wohl kaum nennenswerte Risiken – verfügbar sind die Titel im Netz ja ohnehin.
Die Zukunft ist mehrdimensional
Für die Klassikdienste bleibt neben der Vervollständigung der Kataloge vor allem eine Verbesserung weiterführender Informationen eine wichtige Baustelle. Integrierte Konzertführer oder Booklets sollten eine Selbstverständlichkeit sein. Darüber hinaus könnten Künstler, Medienmacher oder Labels die Möglichkeit bekommen, Bereiche innerhalb der Dienste mit eigenen Inhalten zu füllen, wie in sozialen Netzwerken mit Nutzern in Kontakt zu treten, Gedanken zu kommunizieren, Videobotschaften oder Podcasts zu senden. So würden die Plattformen zur intensiven, mehrdimensionalen Beschäftigung mit Musik einladen anstatt nur als Sammelbecken von Aufnahmen zu fungieren. Vielleicht wären dann auch mehr Nutzer bereit, für das Angebot eine angemessene Summe Geld zu bezahlen.