Von Marie König, 02.01.2018

Übergangsfetischismus

Genau da passiert es: Am Übergang zwischen zwei Dingen entsteht Energie. Zwischenzustände, in denen das Alte noch nicht aufgehört und das Neue noch nicht begonnen hat, fühlen sich magisch an. Deshalb sucht die Autorin wie besessen nach Übergängen zwischen Musiken aller Art.

Ja, ich bin eine Übergangsfetischistin. Und ja, ich habe endlose Zugfahrten und Sonntagvormittage beim Tee damit verbracht, Playlisten zusammen zu zimmern, wo die Stücke mehr oder weniger perfekt ineinander übergehen. Dabei habe ich begriffen, wie viel Respekt ein guter DJ verdient – vor allem, wenn er Musik aus verschiedenen Genres verwenden möchte. Bei Spotify kann man die Stücke dilettantisch mit der Überblendungsfunktion verbinden. Für diese Playlist bitte 10 Sekunden einstellen. Ein weiterer Hörtipp, bevor es mit Lianne La Havas losgeht: Diese Musik hören, wenn man sich im Übergangszustand schlechthin befindet, auf der Reise.



Mit einem Mal öffnet sich in Lianne La Havas’ Studio eine Tür. Durch sie hindurch blickt man in einen Pariser Salon, wo Frédéric Chopin Klavier spielt. So kommt es mir vor, wenn das Klavier wie selbstverständlich in das Verstärkersurren hinein perlt. Über Damien Rices wunderbaren Song „Coconut Skins“ gelangen wir zu Alfred Schnittkes „Suite im alten Stil“. Schnittkes Werk ist geprägt von einer Polystilistik, die sich aus allen Epochen und musikalischen Formen bedient. Er bewegt sich innerhalb seiner Musik ständig am Übergang – und zwar ist die Suite eindeutig betitelt, aber sie klingt gleichzeitig alt und neu.

Arvo Pärts berühmte „Fratres“ enfalten sich wie eine Landschaft, durch die man hindurch schreiten kann. Bis zum nächsten Titel, „Hopopono“ des Trios GoGo Penguin aus Manchester. Der Titel ist dem Hawaiianischen entlehnt, wo „Ho’oponopono“ ein traditionelles Vergebungsritual bezeichnet. Eine Scarlatti-Sonate auszuwählen, fällt unheimlich schwer. Der italienische Komponist hat über 500 Klaviersonaten geschrieben, eine schöner als die andere. Diese hier führt zur dritten Novelette von Francis Poulenc, einem recht unbekannten kleinen Stückchen, das sich harmonisch in alle Richtungen ausstreckt.
Aus den Beats von Bonobo kristallisieren sich die Stimmen des Calmus Ensembles heraus, mit einem Stück aus „The Fairy Queen“ von Henry Purcell. Angesichts der Liebe sind die Figuren der Barockoper genauso fassungslos wie die Mitglieder der leider aufgelösten Band The Whitest Boy Alive.
Eine Neuentdeckung ist die Niederländerin Tessa Douwstra, die vor kurzem ihr neues Projekt LUWTEN auf CD festgehalten hat. Ihr Song „Indifference“ läuft in einem tiefen Dröhnen aus, aus dem sich der Ton von Truls Mørk mit der zweiten Cellosuite von Johann Sebastian Bach entwickelt. Nach Bach einen adäquaten Übergang zu finden, ist nahezu unmöglich, weshalb die Playlist an dieser Stelle in Stille übergehen sollte.

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