Von Anna Vogt, 15.09.2018

Mehr ist mehr

In Chemnitz wurden Anfang September bei einem Gratis-Rock-Konzert 65.000 Menschen gegen rechtsradikale Hetze mobilisiert. Die Message war einfach: #wirsindmehr. Und die Musik spielte dabei ihre größten Trümpfe aus. Die niusic-Kolumne.

Als am 3. September 65.000 Menschen nach Chemnitz reisten, war allein schon das ein Statement. Denn das sächsische Städtchen hat man sonst für Ausflüge eher nicht so auf dem Schirm. Durch ausländerfeindliche Ausschreitungen und die aggressive Präsenz von wütenden Rechtsradikalen hat sich die Stadt aktuell einen ziemlich schlechten Ruf erworben. Doch es gibt natürlich auch ein anderes Chemnitz, und das wollte die rechte Hetze und die Imagekatastrophe nicht hinnehmen, sondern startete mit Kundgebungen für Toleranz und Offenheit. Die mediale Aufmerksamkeit war geweckt – erst recht, als „Die Toten Hosen“, „Die Ärzte“, „Kraftklub“ und andere Rock-Gruppen ein gemeinsames Gratis-Konzert organisierten. Mit einer klaren Botschaft: #wirsindmehr.

Ode an die Freiheit

Dem Widerstand einen Sound geben, eine Masse mobilisieren, ein Zeichen setzen: Musik kann sowas. Als Leonard Bernstein etwa Weihnachten 1989 kurz nach dem Mauerfall in Berlin zwei Konzerte gab, übermittelte jedes Details eine starke Botschaft: Ein Konzert fand in der Philharmonie im Westen Berlins statt, das andere im Schauspielhaus (heute Konzerthaus) im Osten. Auf dem Programm: natürlich Beethovens Neunte, bei der Bernstein im Schlusschor die berühmte erste Liedzeile änderte, aus „Freude“ wurde „Freiheit, schöner Götterfunken“. Und auch das Orchester war symbolisch besetzt, denn das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wurde nicht nur verstärkt durch Musiker aus Dresden (als Verbrüderung mit dem Osten), sondern auch aus St. Petersburg, London, New York und Paris und damit aus genau den alliierten Ländern, die sich im Krieg gegen Nazi-Deutschland zusammengetan hatten. Alles im Zeichen eines neuen Miteinanders, Gemeinsamkeit statt Separation. Es traf damals den Zeitgeist, wurde in 20 Länder live übertragen und ist bis heute legendär.



Solche kulturellen, symbolträchtigen Initiativen sind mehr als einmalige Großevents, denn sie können die Gesellschaft nachhaltig verändern. Über das Chemnitzer Konzert vor 12 Tagen meint „Kraftklub“-Sänger Felix Brummer in einem Tagesspiegel-Interview daher zwar: „Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass man ein Konzert macht, und dann ist die Welt gerettet“. Aber es sei „wichtig, zu zeigen, dass man nicht allein ist.“ Denn die Botschaft hinter dem Konzert lautete schlicht: alle Willkommen, außer Rechtsradikale. Damit fühlten sich – zum Glück! – wirklich viele angesprochen. Und schiere Masse ist manchmal einfach überwältigend; das gilt nicht nur für die Interpreten, wie Hannah Schmidt kürzlich auf niusic beschrieben hat, sondern in diesem Fall vor allem fürs Publikum.

Nicht jeder der 65.000 Konzert-Besucher wäre vielleicht auch auf eine Demo gegangen oder hätte sich in den sozialen Medien klar politisch positioniert. Doch wer zum Chemnitzer Konzert mit seiner deutlichen Botschaft kam, wurde automatisch zugleich auch selbst zum Übermittler dieser Message. Wurde zu einem Kopf von Zehntausenden, die sich verbündeten gegen rechtsradikale Gesinnung und Ausländerfeindlichkeit. Die Masse machts – und die Musik lockte sie an, versorgte sie mit einem kraftvollen Sound, mit Tanzbeats, mit Emotionen. Musik kann politisch sein, wenn sie es durch den Kontext wird. Und sie kann trotzdem oder erst recht deswegen Spaß machen. Das zeigte das Chemnitzer Konzert in aller Deutlichkeit.



Ob etwas bleibt von den Botschaften dieses Abends, das wird man sehen. „You’ll never walk alone“ gab Sänger Campino den Massen mit auf den Heimweg. Für die Menschen der Region wird diese berühmte Liedzeile nicht unmittelbar etwas daran ändern, dass sich viele ausgeschlossen und abgehängt fühlen. Aber zumindest für diejenigen, die sich nicht den gefährlichen Tendenzen der Ultrarechten ausgeliefert fühlen wollen, war das vermutlich Nahrung für die Seele, für den Mut, den es manchmal braucht, um etwas zu sagen, zu diskutieren. Um Unsägliches – im Alltag – nicht einfach unkommentiert zu lassen.

Zeit für Aufbrüche

Für Chemnitz ist Kultur eine Chance, gegenzusteuern und Menschen zu verbinden. Ambitionen hat die Stadt in dieser Hinsicht, sie möchte 2025 Kulturhauptstadt Europas werden. Denn „wenn Chemnitz etwas im Blut liegt, dann sind es Aufbrüche“, kann man auf der Bewerbungs-Website lesen. Und der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, meint in einem Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur, dass die Stadt gute Chancen habe. Denn Kraft und Aufbruch entsteht oft aus Krisen heraus. Dann wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt für einen solchen Neuaufbruch, und das #wirsindmehr-Konzert dazu ein grandioser Auftakt. Mit der Musik als kraftvollem Multiplikator für ein neu entfachtes Gefühl der Gemeinsamkeit, für neuen Mut in sonst eher mutlosen Zeiten.

© pixabay
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