Von Hannah Schmidt, 17.08.2018

Welcome, Universe

Viele Komponist:innen schufen in ihrem Leben früher oder später Werke, die vor allem für ihre gigantischen Besetzungen berühmt wurden. Ist es billig, in der Musik auf Quantität zu setzen?

Es gibt Konzerte, die sind wie eine Mondfinsternis. Wenn man sie an diesem einen warmen Augustabend auf dem stoppeligen Feld am Stadtrand beziehungsweise auf dem hintersten billigen, einzigen noch freien Platz in der Philharmonie nicht mitnimmt, dann hat man etwas verpasst, was so schnell nicht wiederkommt. Es passiert nicht oft, dass sich der Schatten der Erde vor den Mond schiebt und daneben auch noch der Mars perfekt zu sehen ist.
Und es passiert auch eher selten, dass ein Orchester fünf Jahre lang spart, um Gustav Mahlers Achte Sinfonie aufzuführen, wie zuletzt die Dortmunder Philharmoniker. Oder dass ein steinreiches Festival wie die RuhrTriennale sein vieles Geld investiert in die Realisation eines Werkes wie Charles Ives´ „Universe Symphony“ – letztere ergänzt durch weitere Werke des Komponisten und zudem in einer szenischen Umsetzung durch Regisseur Christoph Marthaler. Beide Sinfonien sind so groß besetzt, dass es in der Regel entweder an Räumen oder an Platz mangelt, um sie aufzuführen, oder schlicht an Musiker:innen.

Echoisierender Uhren-Glocken-Windspiel-Klang, der von der Decke kommt

Die Jahrhunderthalle in Bochum war am Freitag jedenfalls einer der beeindruckendsten Orte, die Ives´ „Universe Symphony“ je von innen sehen durfte. Wenn zu Beginn die Schlagzeuger von den unter der Decke der Halle gespannten Stahlträgern spielen, jeder mit eigenem sturem Rhythmus und einer ganz eigenen Zeitlichkeit, dann umarmt die Zuschauerin auf ihrem engen Polsterstuhl der echoisierende Uhren-Glocken-Windspiel-Klang wie ein Schwall warmen Wassers. In der gigantischen Halle, in der die Musiker:innen bis zu 50 Meter entfernt voneinander stehen und spielen mussten, verlief sich die Masse an Menschen, die an der Produktion beteiligt waren.

Die Halle ohne Grenzen war wie ein Sternenhimmel, in dem sich der nach Konzentration suchende Blick der Staunenden verliert. Was das Ensemble „Rhetoric Project“ aus Schauspieler:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen da Irritierendes auf der Bühne vollzog – manchmal über 15 bis 20 Minuten lang geloopete und wiederholte Mini-Rituale –, erschien anfangs sinnlos, schwer zu verstehen. Irgendwann aber erreichte das Geschehen in der Musik und auf der Bühne ein Stadium, vor dem der kleine Verstand der Zuschauerin einfach nur heillos kapitulieren konnte. Das, Freunde, das ist das Universum.

Muss man da noch fragen, ob es ein billiger Zug ist, hunderte Musiker:innen auf die Bühne zu holen? Klar, Schubert kommt in seiner „Winterreise“ mit zwei Musiker:innen aus, die der Hörerin emotional alles abverlangen. Und Salvatore Sciarrino schreibt seine Höllen-Oper „Lohengrin“ über weite Strecken für nur eine einzige Sopranistin ohne Begleitung. Wer braucht schon sechs Harfen, Fernorchester, zwei große gemischte Chöre, Knabenchor, Orgel und großes Orchester wie Mahler in seiner Achten? Was hat man von „zwei oder mehr Orchestern“, neun Flöten, zwölf Schlagzeugern an über 30 Percussioninstrumenten und 15 Blechbläsern wie bei Ives? Anders gefragt: Was bewegt Komponist:innen dazu, größte je geschriebene Werke schaffen zu wollen (im absurdesten Fall auch noch unabhängig davon, was sie erzählen sollen, da steht die Form vor dem Inhalt fest)?

Sind Quantität und Qualität überhaupt Widersprüche?

Hier gerät diejenige, die immer und überall DEN SINN sucht, ins Schlingern. Ob nun mit Quantität die Illusion von Qualität erschaffen werden soll, ob die Qualität in einzelnen Fällen nur durch die Quantität möglich ist, ob beides überhaupt Widersprüche sind, weil sie ja so oft als solche verwendet werden – ist hier einfach mal völlig egal! Mahlers Achte ist nicht sein anspruchsvollstes Werk, aber umso schwieriger gut zu spielen. Der vierzigstimmige Motetten-Gigantismus „Spem in alium“ von Thomas Tallis ist an Kunstfertigkeit nur schwer zu überbieten. Strauss´ „Alpensinfonie“ zu spielen ist der Traum eines jeden Orchesters, ebenso Strawinskis „Le sacre du printemps“, aber auch eine sauschwere Angelegenheit.

Am Gigantismus misst sich nicht nur die Komponist:in, sondern auch jede:r Musiker:in, die später mit der Aufführung beschäftigt ist, auf besondere Weise: Zu verstehen, dass man als Interpret:in in dieser großen Masse einerseits natürlich untergeht, andererseits aber trotzdem unentbehrlich ist, ist ein Paradox, das vor allem in einer postmodernen und individualistischen Gesellschaft stark empfunden wird. Der stürmische Applaus am Ende ist trotzdem fast immer sicher bei optisch so imposanten Werken.

Nächstes Mal wird er einen Edding mitnehmen und noch eine Treppe höher steigen.

Der Effekt gleicht dem eines Feuerwerks: Es ist vor allem deshalb so beeindruckend, weil die Musiker:innen mit diesem Riesen umzugehen, ihn zu bändigen wissen. Da zerrt ein Monstrum an seinen Ketten, aber man vermag es zu halten. Schaut hin! Hier ringt der Mensch mit etwas, das eigentlich zu groß für ihn ist, und er wächst daran über sich hinaus. Ein bisschen wie ein Teenager, der mit dem Fahrradschlüssel seine Initialen in die höchsten Steine des erkletterten Kirchturms kratzt. Nächstes Mal wird er einen Edding mitnehmen und noch eine Treppe höher steigen.

Riesenbesetzungen sind kein billiger Trick. Sie bringen die Zuhörer:innen und die Musiker:innen gleichermaßen an eine Grenze: Was bin ich fähig aufzunehmen und zu verstehen? Und: Was bin ich in der Lage beizutragen, und wie schaffe ich es, dabei gleichzeitig vor der Kunst zurück zu treten, die ohne mich nicht entstehen würde? Sich dieser Fragen bewusst zu sein, ist wohl der Geist, aus eine gute Interpretation erwächst. Das, Freund:innen, ist das Universum.


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