Von Malte Hemmerich, 19.03.2020

Kultur von der Wursttheke

Tausende Menschen, die sonst beinah täglich abends die Konzert- und Opernhäuser des Landes füllen, müssen nun zuhause bleiben. Mit Streamingtechnologie bringen Künstler:innen und Institutionen nun Musik in die Wohnzimmer – und vergessen dabei anscheinend den Wert des Gegenstandes.

Als Siebenjähriger beim samstäglichen Großeinkauf war für mich die Fleischwurstscheibe, die die nette Verkäuferin über die Theke reichte, immer ein Highlight. Ein kostenloser Teaser auf mehr.
Wäre die Kulturszene dieser Tage eine Fleischtheke, es gäbe im Moment die feinsten Filets gratis. Alles muss raus.
Diesen Eindruck kann gewinnen, wer sich im Internet die Angebote anschaut. Nach den ersten Konzertabsagen letzte Woche streamten viele Opernhäuser, die Berliner Digital Concert Hall gab ihr Videoarchiv für einen Monat frei und Igor Levit spielt jeden Abend ein Konzert aus seinem Wohnzimmer. Alles ohne Eintritt.

Wunderbar, wie schnell diese vermeintlich schildkrötenalte Branche reagiert und Musik ins Netz bringt. Und schön, wie sie als Trost und wichtige Stütze von Hunderttausenden Viewern angenommen wird.
Doch die unreflektierte Abfeierei der Angebote, wie sie jetzt viele Medien zelebrieren, sollte uns nicht blenden für die Probleme der Musiker:innen der zweiten Reihe, die nicht die Abonnenten und Follower der Opernhäuser und Stars haben, um die Zeit zur Markenbindung zu nutzen. Deren Probleme, die wegbrechenden Konzerte und Einnahmen, sind zum Glück auch ein Dauerthema, die Spendenkampagnen laufen. Aber gerade die mühsamen Gehversuche dieser Künstler:innen werden nun von Umsonst-Angeboten torpediert, hier nur ein Beispiel von Hunderten:

Das klassisch-progressive Geigenduo The Twiolins hat bis mindestens Ende April erstmal gezwungenermaßen konzertfrei.
„Es gibt Veranstalter, die zahlen die Hälfte der Gage und holen Termine nach. Aber das ist nicht die Regel“, sagt Marie-Luise Dingler.
Die Alternative: Konzerte über die Plattform „Stage it“ anbieten und zumindest kleine Einnahmen generieren. Mittlerweile ist der Dienst stark ausgelastet. Das Publikum sitzt zuhause und ist kulturhungrig. Doch große Künstler:innen, die ihre Musik umsonst über Social Media teilen, greifen viel Aufmerksamkeit und Publikum ab, so Dingler:
„Wenn ein Künstler wie Igor Levit erst mal gute Stimmung macht und aufmuntert, ist das super. Aber in dieser Regelmäßigkeit einfach übertrieben. Er fordert ja sonst immer Solidarität – so ist das, was er jetzt tut, zu kurz gedacht: Tausende finden es toll, klar, aber andere Künstler:innen gehen unter, auch weil es ebenfalls viele Angebote von Orchestern im Moment gibt.“

Ja, es ist toll, die breite Musikkultur so vielen Menschen ohne direkte Gegenleistung zur Verfügung zu stellen. Für eine kurze Zeit.

Und dann ist da noch ein zweites Problem: Was geben wir dem nun so unverhofft großen Publikum für ein Bild von der Kunst? Wie wertvoll ist sie uns, und wie wichtig sollte sie auch allen anderen sein? Ein kleiner Hint: Unser Wertesystem misst, so schlimm man das auch finden kann, nun mal monetär. Im Moment ist es teurer, Toilettenpapier bei Rewe zu kaufen, als sich ein Konzert aus der Bayerischen Staatsoper anzusehen. Schön, aber auf Dauer bedenklich.

Ja, wir brauchen geistige Nahrung in der bevorstehenden Isolation, aber welcher Schriftsteller verschenkt nun seine Bücher? Warum auch? Diese Kunst, auch die Musik, wird von Künstler:innen geschaffen, die davon leben. Und Menschen müssen lernen, dafür Geld auszugeben. Zu einem Teil machen sie das bereits, über Steuern werden die großen Kulturinstitutionen gefördert, nun kann die Zeit sein, etwas zurückzugeben, deshalb: Es ist toll, die breite Musikkultur so vielen Menschen ohne direkte Gegenleistung zur Verfügung zu stellen. Für eine kurze Zeit. Sonst wird aus dem Neugierigmachen eine verpuffende Dauerbeschallung und das Unentgeltliche zur Selbstverständlichkeit.

Bringt Musik ins Netz, nehmt Gebühren und macht einmalige Bezahlschranken, damit Menschen den Wert der Kultur schätzen, und spendet die Einnahmen, wenn ihr wollt, an die Unterstützungsfonds für die freien Musikerinnen und Musiker, die in den nächsten Wochen in der medialen Welt nicht vorkommen werden.

Herobild © Pixabay
Twiolins © Christoph Asmus


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