niusic: In einer Utopie: Wie sähe das ideale Theater für Sie aus?
Julia Wissert: Interessanterweise sind wir zuletzt bei dem Begriff eines „Community Centers“ gelandet. Schauspiel und Theaterpraxis blieben natürlich im Zentrum. Gleichzeitig wäre ein ideales Theater für uns ein Ort, an dem man gerne verweilt. Wo man Kaffee trinken, Bücher lesen, Yoga machen, Eltern und Kinder treffen kann – ein Ort, den jede:r mitgestaltet, auf, vor und hinter der Bühne. Eine impulsgebende Institution für die Stadtgesellschaft.
niusic: Alle gestalten zusammen ein gemeinsames Kunstwerk?
Wissert: Müssen nicht. Nicht immer und überall. Aber es sollten schon Künstler:innen an diesem idealen Theater sein, die mit Menschen arbeiten wollen. Es könnte Akademien geben oder Workshops, wo Menschen das, was sie künstlerisch ausprobieren möchten, in einem professionalisierten Rahmen weiterentwickeln können.
niusic: Professionell im Sinne von: im Rahmen eines Stücks, das vorher geplant wird?
Wissert: Das kann ganz unterschiedlich sein. Unsere Eröffnungspremiere vor Corona war zum Beispiel gedacht als ein Dialog im Theater zwischen Künstler:innen und Bürger:innen. „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?“ Dazu haben fünf Autor:innen verschiedene Texte über Orte in der Stadt verfasst. Durch die Sicherheitsmaßnahmen ist daraus ein Stadtspaziergang geworden an die jeweiligen Schauplätze. Die Stadt hat dann ganz von allein Einfluss genommen, als Hintergrund und auch als Mitspielerin. Menschen haben sich zu den Spieler:innen verhalten – in unterschiedlichster Qualität.
niusic: Wie wichtig sind neue Spielorte? Irgendwie sind sie ja ein Mantra geworden für viele, die Theater neu denken möchten.
Wissert: Neue Spielorte haben keinen Selbstzweck. Daran hängt aber die Frage nach dem Publikum. Bisher hat sich das Theater vor allem die Frage gestellt, wie es endlich ein neues Publikum gewinnen kann. Es ist jetzt Zeit zu fragen: Was ist unsere Rolle in ihrem Nichtkommen? Wir müssen unsere Inhalte, Zugangsbarrieren überprüfen. Es braucht Selbstreflexion. Wirksam wird die nur, wenn die Bemühungen sichtbar werden für alle Menschen in der Stadt – nicht nur für die, die ohnehin ins Theater kommen. Wie können wir unser Streben nach Veränderung, unsere Suche nach einer zukünftigen Ästhetik im Stadtraum verankern? Eine Idee ist, dass wir die Geschichten im Stadtraum sehen und uns zu ihnen verhalten. Aber das muss planvoll sein.
niusic: Wenn es um Veränderungen auf der Bühne oder struktureller Art innerhalb von Kulturinstitutionen geht, habe ich das Gefühl, dass Erneuerungsversuche manchmal nicht das erreichen, was sie anstreben. Ich frage mich, woran das liegt. Was möchten Sie tun, damit am Ende etwas wird aus den Ideen und Bemühungen?
Wissert: Das ist natürlich genau die Frage, die uns als Team beschäftigt. Mit jedem Tag, mit jeder Probe, werden neue Herausforderungen sichtbar, die wir vielleicht vorher so nicht mitreflektiert haben. Nach drei Wochen „in Amt und Würden“ sehe ich vor allem eine Herausforderung. Sie hat mit der Institutionalisierung des Theaters zu tun: Ein Genie an der Spitze sollte dem Fürsten oder König Kunst schaffen. Den Fürsten, den König gibt es lange nicht mehr. Aber diese Idee des Genies an der Spitze, die harten Hierarchien und das Phantasma, dass gute Kunst nur durch Leid geschaffen werden kann – das hält sich noch.
niusic: Es gab die Französische Revolution, die das Theater geöffnet hat für ein breiteres Publikum. Und hier im Ruhrgebiet die „Kunst gegen Kohle“-Politik. Die Idee des Genies an der Spitze lebt trotzdem fort?
Wissert: Naja, der Punkt mit „Kunst gegen Kohle“: Das ist vielleicht als Idee ganz interessant, die einmalig sicher funktioniert hat, zum Beispiel wenn die Industrie ganze Theatervorstellungen gebucht hat für ihre Angestellten und deren Familien. Gleichzeitig sind wir hier in der Region einer Städteplanung, die gezielt Universitäten außerhalb von Städten gebaut hat, damit es keine Vermischung zwischen Akademiker:innen und Arbeitenden gibt. Das ist eine Klassenfrage. Günstige Konzertkarten sind schön, aber auf die Bühne waren nicht alle eingeladen. Deshalb frage ich mich: War „Kunst gegen Kohle“ jemals mehr als eine einmalige Veranstaltung, eine Fantasie, die ihre Grenzen erreicht hat?
Vorgestellt: Julia Wissert
niusic: Im Grunde ist das aber genau die Fantasie, die Sie jetzt hier verwirklichen möchten – oder nicht?
Wissert: Im Grunde, ja. Davon träumen viele Theater und dazu kann ich Ihnen auch sagen: Das Problem dabei ist oft die Finanzierung. Kein Theater hat ein Budget dafür, sich in Transformationsprozessen begleiten zu lassen. Keine Regierung hat jemals gesagt: Wow, diese Institutionen müssen sich eigentlich mal selbst überprüfen, ob sie so, wie sie sind, noch zeitgemäße Arbeitgeber:innen sind. Diese Kosten müssen eigentlich immer aus den künstlerischen Budgets heraus bezahlt werden.
niusic: Verstehe ich richtig: Die Veränderung muss neben einem laufenden Spielbetrieb passieren. Es kann sich niemand leisten, die Pause-Taste zu drücken und etwas auszuprobieren, was dann vielleicht scheitert?
Wissert: Das bedeutet das theoretisch. In NRW gibt es das Förderprogramm „Neue Wege“ des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft von NRW zur Ausbildung eigener Profile, dort können sich Institutionen mit allen möglichen Projekten bewerben. Wir haben dort erfolgreich einen Antrag gestellt für „Theater in Transition“. Also der Frage nach den Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen künstlerischer Produktionen. Darüber lässt sich jetzt einiges ermöglichen. Aber natürlich, in einer idealen Welt, würde man wahrscheinlich ein Jahr oder ein halbes sagen: Man schließt das Haus, lässt alle trotzdem voll weiter bezahlen und schaut dann gemeinsam: Sind die Prozesse so, wie wir sie gerade durchlaufen, noch die Prozesse, die zeitgemäß sind?
niusic: So ein Austausch muss also theaterintern stattfinden und erstmal gar nicht in der Öffentlichkeit?
Wissert: Dieser Austausch passiert bei uns theaterintern und gleichzeitig in der Öffentlichkeit. Wir haben dafür unsere Reihe, „Futur III“, in der es um Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens geht. Und das bedeutet auch, dass wir mit den Erkenntnissen, die wir jetzt in diesem Prozess machen, an die Öffentlichkeit gehen. Aber vor allem mit den Dingen, die übertragbar sind auf andere Kontexte.
niusic: Wie möchten Sie die Arbeitsbedingungen am Theater verändern? Als Intendantin haben Sie gewisse Möglichkeiten, aber da gehört ja noch mehr zu.
Wissert: Das sind genau die Fragen, die uns umtreiben. Das bedeutet, dass wir uns begleiten lassen, dass wir uns beraten lassen, dass wir herausfinden: Wo fehlt uns Wissen? Wo müssen wir uns neu aufstellen? Die Idee, dass sich Theater verändern muss, ist ja nichts, was wir hier am Schauspiel Dortmund erfunden haben. Die Sehnsucht danach gibt es seit Jahren, es gibt Initiativen für Solidarität am Theater, es gibt das Ensemblenetzwerk. Da beginnen jetzt zarte Blüten der Vernetzung, damit die Veränderungen nachhaltig für die ganze Theaterlandschaft sein können. Die Zeiten sind vorbei, wo gewaltvolle Arbeitsstrukturen einfach hingenommen wurden. Es ist die Zeit eines Generationenkonfliktes, alte Arbeitsweisen treffen auf neue Theaterschaffende, die andere Erwartungen an sich und ihre Leben haben und diese Erwartungen in die Institutionen tragen.
niusic: Sie sind die jüngste und erste Schwarze Intendantin an einer deutschen Bühne. Das sagt leider so viel aus über das Tempo der bisherigen Veränderungen … Was bringt es mit sich, nicht „nur“ Intendantin zu sein, sondern immer auch Stellvertreterin für gleich alle Identitäten, die kaum vertreten sind in der Kulturszene? Schon gar nicht in Führungspositionen.
Wissert: Ja, es gibt die Veränderungen, sonst wäre ich wahrscheinlich nicht hier, aber ja, es geht langsam. Aber nur weil sich langsam etwas verändert, heißt das noch lange nicht, dass die Veränderung bald abgeschlossen ist! Ich habe das Glück, dass ich sicher Räume und Möglichkeiten öffnen kann und in einem Team arbeite, das genau das auch möchte. Trotzdem sind wir uns alle bewusst: Irgendwann werden auch wir von einer nächsten Generation als „reaktionäre“ Führungsetage gesehen werden. Das ist immer so. Nichts ist für die Ewigkeit. Und die Frage ist nur: Welche Spuren, welche Räume hinterlassen wir, dass es vielleicht für die nächste Generation nochmal einfacher wird?
niusic: Ist das so? Ist die ältere Generation wirklich immer die reaktionäre?
Wissert: Ja, ich glaube das ist so ...
niusic: Ist vielleicht die Frage, gegen was man sich da auflehnt. Manchmal denke ich, einige „Enfants terribles“ waren schon in ihrer Zeit gar nicht so progressiv. Das kommt ja auch auf die Gesellschaft an, die ihnen das gespiegelt hat. Wenn ich dagegen zum Beispiel Nicole Schöndorfer oder Alice Hasters zuhöre, habe ich den Eindruck, dass überall Räume entstehen zur kritischen Selbstreflektion, zur Erkenntnis, wer wir sind und was unsere Position ist. Wenn man älter wird, wird man nicht von alleine klüger oder reflektierter, aber vielleicht auch nicht automatisch reaktionär. Ich hoffe immer, dass es eine neue Grundhaltung gegenüber Veränderung und eine kritische Selbstwahrnehmung gibt, die davor bewahren kann …
Wissert: Ja, es macht einen großen Unterschied, wie zum Beispiel Personen auf diesen Entscheiderpositionen sich selbst sehen. Mir hat mal jemand ganz am Anfang gesagt, da habe ich versucht, die ältesten Dortmunder:innen kennenzulernen: Wenn sie mir einen Rat mit auf den Weg geben kann, dann ist es, dass sie sagen würde: Bleiben Sie unabhängig. Bleiben Sie in dem, was Sie machen wollen, unabhängig und wissen Sie jeden Tag, wenn Sie aufstehen, dass Sie gehen können. Das fand ich super spannend. Weil natürlich bedeutet das was, rein ökonomisch betrachtet. Worum es dieser Person ging, ist einfach die Frage danach: Wo sehe ich mich? Was wünsche ich mir für mich? Und was hat das für Konsequenzen für die Institution und meinen Leitungsstil? Und dass ich mir eingestehen kann, dass es natürlich in der Zukunft Menschen geben wird, deren Zeit für diesen Job noch kommt.
niusic: Was wären denn ganz konkret Arbeitsbedingungen an Theatern, die sich verändern müssen und wo es für Sie zum Beispiel auch möglich ist, etwas zu verändern?
Wissert: Kinderbetreuung! Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf! Das ist ein riesen Thema natürlich, mit diesen Arbeitszeiten hier. Das Schöne ist, das muss ich sagen: Die Stadt und das Theater Dortmund sind extrem unterstützend mit jeder in Anführungszeichen „verrückten Idee“, mit der wir kommen. Auch ein riesen Thema ist natürlich die Frage nach dem Gagengefüge, während Corona umso mehr. Wie bezahlen wir Künstler:innen? Und dann noch, ganz klar: die Förderung von unsichtbar gemachten Künstler:innen und Menschen, die auf Führungspositionen wollen. Wie können wir eine nächste Generation von Institutionsleitungen kollektiv einzeln so vorbereiten, dass sie gut in diese Positionen reinwachsen können?
niusic: Ich möchte noch kurz sprechen über die Anti-Rassismus-Klausel, die Sie 2017 zusammen mit der Anwältin Sonja Laaser entwickelt haben. Worum geht es da?
Wissert: Die Anti-Rassismus-Klausel können sich freischaffende Künstler:innen in ihre Werkverträge schreiben lassen. Das Theater verpflichtet sich, im Falle eines rassistischen Vorfalles, keine Einzelbestrafung einer Person vorzunehmen und auch nicht die betroffene Person wieder erklären zu lassen, warum Rassismus so schlimm ist. Sondern als Institution einzugestehen: Es tut uns leid, dass dir das passiert ist, wir haben hier offenbar eine Wissenslücke, und die wollen wir schließen. Und dazu holen wir uns Unterstützung – in Form von Beratungen, Workshops, zum Beispiel. Es wurde in der Presse immer wieder davon gesprochen, dass das ein Bestrafungsinstrument sei oder ein Zensurinstrument – das kann die Klausel überhaupt nicht. Was Sonja Laaser und mir daran so wichtig war: Wir haben keine Lust darauf, dass es um Einzelpersonen geht. Dass Einzelne vor der Belegschaft vorgeführt werden dafür, dass sie vielleicht etwas gesagt haben, das alle anderen auch denken. Oder zumindest auch nicht verstehen. Es soll für alle Seiten eine Hilfe sein, ein Klima zur Weiterbildung herzustellen.
niusic: Und wenn sich die Institution daran nicht hält?
Wissert: Dann kann die betroffene Künstler:in den Vertrag mit sofortiger Wirkung auflösen. Die Institution verpflichtet sich, die Künstler:in nicht auf Schadensersatz zu verklagen. Und das Geld, was bis zu diesem Zeitpunkt gezahlt wurde, darf die Künstler:in behalten. Allerdings ist dieser Fall – meines Wissens – noch nie eingetreten. Bis der Punkt gekommen ist, dass ein Theater diese Klausel unterschreibt, sind schon so viele Gespräche passiert, dass es sowieso ein Bewusstsein in der Institution gibt. Und vor allen Dingen: Mittlerweile ist es gar nicht mehr die „Anti-Rassismus-“, sondern die „Anti-Diskriminierungs-Klausel“. Die Gespräche waren so konstruktiv, dass viele Institutionen die Klausel zusammen mit Sonja Laaser angepasst haben für ihre spezifischen Bedürfnisse. Dazu gibt es eine Website, auf der Workshop anbietende Personen aufgeführt werden, Literatur, Fortbildungsprogramme und so weiter.
niusic: Also ist das eher ein Instrument, das unterstützt, als ein juristisches.
Wissert: Genau.
niusic: Zum Schluss: Wenn Sie drei Wünsche hätten, die sofort in Erfüllung gehen: Was würden Sie sich wünschen?
Wissert: Ich würde mir sofort wünschen, dass wir alle in der ganzen Welt nicht mehr mit dieser Pandemie zu tun hätten, sondern dass wir morgen früh aufwachen würden und uns als Menschen wieder umarmen und so begegnen könnten, wie wir es gerne würden. Ich würde mir wünschen, dass wir in einer Welt leben, in der wir unterschiedliche Lebensentwürfe als Bereicherung für uns als Gesellschaft begreifen würden und nicht als Bedrohung. Und ich würde … haha! Ich würde mir eine drei-Tage-Woche bei Vollbezahlung für uns alle wünschen!