Von Christopher Warmuth, 12.04.2018

In der Haut des Anderen

Marc Bouchkov beweist auf seiner Debüt-Einspielung, dass ihm Profilneurosen fremd sind. Sie ist eine Hommage an den belgischen Geiger und Komponisten Eugène Ysaÿe, der Bouchkov schon lange am Herzen liegt. Mit zwei eigenen Kompositionen zeigt Bouchkov aber auch, dass es um mehr geht als um Vergangenheitsanbetung.

Ysaÿe – von einem epochemachenden Geiger und Komponisten ...

Diese Sonaten sind ein Spiegel der Zeit! Jede der „6 Sonaten für Violine solo, op. 27“ von Eugène-Auguste Ysaÿe sind einem anderen Geigenstar des zwanzigsten Jahrhunderts gewidmet: Joseph Szigeti, Jacques Thibaud, George Enescu, Fritz Kreisler, Mathieu Crickboom und Manuel Quiroga Losada. Diese Werkgruppe wird in einem Atemzug mit Johann Sebastian Bachs und Niccolò Paganinis Solowerken für Violine genannt. Außerhalb des Geigenzirkels ist Eugène-Auguste Ysaÿe nur wenigen ein Begriff, denn der Einfluss, den er auf seine und die nachfolgende Violinistengeneration hatte, war so prägend, dass er selbst verblasste. Ysaÿes Schaffen startet gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts – eine Zeit, in der Künstler vermehrt in Verbindung miteinander traten. Die Zeichen standen auf Kooperation und auf Veränderung. Es bildeten sich Freundeskreise zwischen den herausragendsten Geigern der großen europäischen Orchester, und diese Kunstzirkel veränderten den Stil, wie damals musiziert wurde. Marc Bouchkov ist getrieben von der Vision, sich dem Ursprung dieser Stilvermischung zu nähern.

„Meine Aufgabe als Musiker ist es, mich komplett in den Komponisten hineinzufühlen. Dafür muss ich in die Lebensgeschichte eintauchen, in die Entstehungszeit und letztlich in die Musik. Es ist Schauspielerei – im besten Sinne.“

Marc Bouchkov

niusic: Deine Einspielung ist ungewöhnlich …
Mark Bouchkov: (lacht) Für mich ist sie das Normalste der Welt.

niusic: Ok. Aber der Komponist Eugène-Auguste Ysaÿe gehört nicht zum gewöhnlichen Repertoire. Können wir uns darauf einigen?
Bouchkov: In der Beschreibung, dass es so ist, gerne. Aber ich will, dass sich das ändert. Ysaÿe muss häufiger gespielt werden. Allein sein Einfluss, der sehr stark ins zwanzigste Jahrhundert strahlt, der muss im Grunde erforscht werden. Und das war der Anfang meiner Einspielung.

niusic: Forschung klingt sehr trocken und nach historischer Aufführungspraxis. Und Forschung will Wahrheiten definieren …
Bouchkov: Ich denke, dass es im Optimalfall nicht nur bei der Erforschung bleiben sollte. Für mich steht die Arbeit mit Biografien und Dokumenten am Anfang, weil es für mich sehr wichtig ist, mich davon inspirieren zu lassen. Es ist das Fundament, auf dem ich Musik mache. Das Musizieren speist sich aus dieser Forschungsarbeit, klingt aber letztendlich nicht trocken, weil es eben Musik ist. Die belgische Violinschule, für die Ysaÿe steht, weil er sie maßgeblich geprägt hat, verlangt von mir, dass ich Fragen an die Entstehungszeit stelle. Ich bin schon sehr lange in seine Musik verliebt, das wollte ich ergründen.

Das Haus des Architekten Victor Horta in Brüssel

niusic: „Belgische Violinschule“ könnte auf einem Übeband für junge Musiker stehen …
Bouchkov: Die belgische Violinschule ist ein wenig „cheesy“ – mit vielen Glissandi 49 und Portamenti. Es ist so komponiert, dass man als Interpret einfach Spaß haben muss. Die Technik sollte leicht klingen, beinahe luftig. Die anderen Schulen dieser Zeit waren eher nobel, ernst und erhaben. Diese spezielle Ästhetik aus Belgien ist für mich das musikalische Äquivalent zum Architekturstil von Victor Horta – sehr viele Verzierungen und fließende Übergänge, und das hat in der Folge viele große Geigenmeister europaweit beeinflusst. Und dennoch kennt kaum jemand den Schöpfer: Eugène-Auguste Ysaÿe.

  1. Weltraummusik! Ja, es ist Musik, die abhebt, die durch das Notensystem schliddert, wie Seife durch den Türschlitz. Es geht hierbei um die kontinuierliche Veränderung der Tonhöhe. Posaunen sind prädestiniert für das Geflirr. Aber auch Instrumente wie Flöten können das, da hört man aber den Übergang von Ton zu Ton. Ups. (CW)



niusic: Wie sah diese Forschungsarbeit zu Ysaÿe denn konkret aus?
Bouchkov: Ich bin nach Brüssel gefahren, habe dort einen unfassbar dankbaren Kontakt zu Marie Cornaz von der Königlichen Bibliothek bekommen. Ohne sie hätte diese Einspielung gar nicht entstehen können. Vor langer Zeit hat meine Großmutter den vierten Preis bei der „Queen Elisabeth Competition“ in Brüssel gewonnen. Sie hatte ein Manuskript von Ysaÿe dabei, und genau das wollte ich haben. Es gab dann ein längeres Hin und Her, und letztlich hat Marie Cornaz mir dann ein Manuskript zugänglich gemacht, das die Welt noch nicht kennt. Es gibt auch keine Einspielungen von diesem Stück.

niusic: Das letzte Stück auf Deiner CD „Mélodie“ ist aus dem Jahr 2011 und eine Eigenkomposition von Dir, die sich auch auf Deine Großmutter bezieht. Ist die CD eine Hommage an Ysaÿe und Deine Großmutter zugleich?
Bouchkov: So habe ich darüber noch nicht nachgedacht, aber es stimmt. Meine Großmutter hat den Holocaust überlebt, und sie hatte großen Einfluss auf mich. „Mélodie“ habe ich in einem sehr emotionalen Moment geschrieben. Ich stand vor dem Grab meiner Großmutter, und mir kam plötzlich diese Melodie in den Kopf, die sie immer gesungen hat. Sie war ein sehr weiser Mensch, nicht überemotional, eher auf dem Boden.



Marc Bouchkov – Geige, Geige, Geige

niusic: Dein Onkel, der ebenfalls Violinist ist, hat dieses Stück auch aufgeführt. Wie fühlt sich das an, als Komponist, wenn jemand Anderes ein so persönliches Stück von Dir spielt?
Bouchkov: Es war sehr interessant, weil er es natürlich anders gespielt hat als ich. Ich habe das Stück, ja sogar diese Melodie, aus einer anderen Perspektive hören dürfen. Das war ein Geschenk.

niusic: Könnte man das Stück falsch spielen?
Bouchkov: Falsch ist ein großes Wort – vielleicht wäre „unpassend“ besser. Und ja – man könnte es unpassend interpretieren. Ich glaube, dass es bei dem Stück darum geht, dass der Spieler die technischen Anforderungen wirklich verinnerlicht hat, damit man darüber nur noch unterbewusst nachdenken muss. Es geht bei diesem Stück nicht darum, dass es „schön“ oder „heil“ gespielt wird. Es muss emotional so gespielt sein, dass klar wird, was meine Großmutter überlebt hat. Im besten Fall bleibt die Zeit kurz stehen.

niusic: Ist es überhaupt möglich, sich beim Spielen völlig frei von Technik zu machen?
Bouchkov: Völlig frei ist sehr absolut. Aber man kann so viel arbeiten und üben, dass die Technik im Unterbewusstsein abläuft. Dann kann man sich auf das Musikalische konzentrieren. Ich glaube, dass das eine sehr generelle Ansicht von mir ist, wie wir Künstler arbeiten sollten. Wir haben ein Instrument. Alleine das Wort „Instrument“ macht klar, dass es lediglich ein Mittel ist. Und dafür müssen wir im besten Fall unser Instrument vergessen und Musik machen.

niusic: Das würde bedeuten, dass es, umso schwieriger die Noten rein technisch umsetzbar sind, auch umso schwieriger ist, dabei Musik entstehen zu lassen. Nehmen wir artistische Stücke – kann man da überhaupt Musik machen?
Bouchkov: Das ist ein Knackpunkt! Häufig spielen junge Pianisten Stücke von Franz Liszt und junge Geiger Stücke von Niccolò Paganini, weil diese Virtuosität jeden Zuhörer fesselt und in einen Bann zieht. Aber genau diese Stücke sind heikel, weil es ein Missverständnis wäre, diese Stücke nur zu beherrschen. Die „wirkliche“ Virtuosität ist, wenn es dann noch gelingt, einen Schritt weiter zu gehen und Musikalität zu kreieren …

niusic: Aber es ist prinzipiell auch bei solchen Stücken möglich?
Bouchkov: Ja, aber es ist sehr selten. Zum Beispiel die Bearbeitung von Heinrich Wilhelm Ernst von „Der Erlkönig“, die auf dem Lied von Franz Schubert gründet. Dieses Stück ist so schwer, dass es nur wenige Musiker gibt, die es wirklich lebendig halten und nicht nur technisch absolvieren. Nachdem man die Noten beherrscht, sollte man sich intensiv mit dem Lied von Schubert auseinandersetzen. Und dann muss man versuchen, mit seinem Instrument die Technik quasi zu singen. Der Geiger Vadim Repin hat das geschafft. Den meisten würde ich in jungen Jahren von diesem Stück abraten. Das ist Oberliga.





niusic: Was heißt konkret „Musik machen“ für Dich?
Bouchkov: (Pause) Schauspielern …

niusic: Angeblich wolltest Du früher mal Schauspieler werden?
Bouchkov: Ja. Ich versuche jetzt nicht, weil ich Musiker geworden bin, Schauspieler zu sein. (lacht) Gute Schauspieler sind sehr selten, weil es nur sehr wenige gibt, die uns wirklich glauben lassen, dass ihr Spiel Realität ist. Und das ist für mich der Teil, der mich inspiriert. Musiker könnten Schauspieler im besten Sinn sein. Mein Wunsch ist es, das Publikum hineinzuziehen in eine ganz eigene Welt – und das nicht mit gesprochenen Wörtern, sondern mit Musik. Und dafür muss ich mich selbst komplett hineinfühlen. Dafür muss ich in eine Rolle schlüpfen …

niusic: In die Rolle der Musik?
Bouchkov: In die des Komponisten, der ja mit der Musik Rollen niedergeschrieben hat. Manchmal sogar mehrere, was dazu führt, dass ich sehr häufig mein Kostüm wechseln und in dieses tief eintauchen muss.

niusic: Geht es dann um Dich, um die Musik oder um den Komponisten?
Bouchkov: Du hast das Publikum vergessen. Und es geht um alles zugleich. Musik machen bedeutet, sich in den Komponisten hineinzufühlen, in seine Zeit, in die Entstehungszeit der Musik und das durch mein Instrument zu öffnen. Dafür muss ich recherchieren, üben und alles kombinieren.

niusic: Welcher Teil ist am schwersten?
Bouchkov: Der Kostümteil.

niusic: Zu viele Kostüme? Zu viele Wechsel?
Bouchkov: Nein. Das Kostüm muss lebendig werden. Das Optimum einer musikalischen Interpretation ist, eine Parallelwelt zu erschaffen.



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Eugène-Auguste Ysaÿe, Ernest Chausson, Marc Bouchkov

Harmonia Nova Nr. 2

Marc Bouchkov & Georgiy Dubko

harmonia mundi

© Aime Dupont Studio/wikipedia.de/CC BY 2.0
© The World Heritage Collection/unesco/CC-BY-SA IGO 3.0
© Nikolaj Lund


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