Von Ida Hermes, 26.09.2019

Bergfest

Mitten in den Dolomiten, an steilen Pässen, auf malerischen Seen und Hochebenen bringt jedes Jahr das Transart Festival für drei Wochen die zeitgenössische Kunst in die Natur. Eindrücke von der Uraufführung von Benedict Masons „Hotel Paradiso“.

Umgestürzte Bäume haben sich ineinander verkeilt, ihre Stämme sind gesplittert, Wurzeln und Äste ragen in die Höhe, den Boden bedecken Tannennadeln und Sägespäne. Sie knacken unter den Schuhen – die Gebirgssonne hat die Erde verdorrt, die Pflanzen versengt. Dann, einige Meter weiter: Postkartenidylle. Friedlich klingeln Kuhglocken auf grünen Weiden, Krokusse sprießen zwischen Klee und Löwenzahn, Bienen summen, Fichten und Kiefern drängen sich bis an den Saum gewaltiger Höhenzüge.

Der Naturpark Schlern-Rosengarten in den Südtiroler Alpen ist ein zerrissener Ort. Ein Orkan hat vor einem Jahr Schneisen in die Landschaft geschlagen, ganze Bergketten entwaldet. Die Holzindustrie freut sich. Sie war schon fleißig, hat ein Räumkommando geschickt, die Katastrophe in eine Geldquelle verwandelt. Nun sieht die Landschaft aus wie überfallen, ausgebeutet.

Ein zerissenes Paradies: Der Naturpark Schlern-Rosengarten

In dieser Kulisse bringt das Transart Festival dieses Jahr sein erstes großes Auftragswerk zur Uraufführung: „Hotel Paradiso“ von Komponist Benedict Mason. Musik, Theater, Schauspiel und Performance sollen hier in Kontakt treten mit der Umgebung, die Raumakustik erforschen, das Areal großflächig bespielen. Solche Projekte, die Raum schaffen für Experimente zwischen den Künsten und sich an neue Orte wagen – sie sind seit fast zwanzig Jahren die Idee von Transart, des „Festivals für zeitgenössische Kultur“, wie es in der Broschüre steht. Gegründet wurde Transart von Peter Paul Kainrath, der auch für den Busoni Klavierwettbewerb in Bozen verantwortlich ist. Transart ist ebenso in Bozen angesiedelt, bewegt sich aber bewusst aus der Stadt heraus: in Gewächshäuser und Fabrikhallen, mitten in die Natur. Dieses Jahr beschäftigt sich das Festival mit äußeren und inneren Polen, zum Beispiel mit einer Kunst-Musik-Performance zur 150-jährigen Erstbesteigung des Langkofel, einem Meilensteil der Alpengeschichte, oder dem Projekt „All The Good“, mit dem das Festival in die Seelenabgründe eines ehemaligen israelischen Elitesoldaten schauen möchte. Künstlerinnen und Künstler wie Laurie Anderson, Beat Furrer und Víkingur Ólafsson hat Transart schon eingeladen, das Festival hat sich in der Region, aber auch in der Neuen Musik-Szene einen Namen gemacht.

„Das Neue, auch das radikal Neue, das möchten wir vermitteln.“

Martina Kreuzer (Managing Director)

„Wir möchten auf diesem Wege neue Zugänge schaffen“, erklärt Martina Kreuzer, Managing Director des Transart Festivals. „Unser Publikum sind in erster Linie die Menschen aus der Region. Da kann zum Beispiel mit zeitgenössischer, experimenteller Musik 107 nicht jeder etwas anfangen. Weil wir Kunstrichtungen miteinander verschränken, kommen sie trotzdem. Und sie nutzen bestenfalls die Verwirrungsmomente, die es natürlich immer gibt, um einen Bezug zu Dingen zu entwickeln, mit denen sie sonst nie in Kontakt gekommen wären.“ Das sei eine Oase für unkonventionelle Ideen und Projekte: „Das Neue, auch das radikal Neue, das möchten wir vermitteln.“

  1. Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ)

Das Publikum sitzt nun auf Picknickdecken und Strandstühlen in einem abgesteckten Rechteck, auf einer Almwiese. Hier und dort trocknen noch die Kuhfladen, der Himmel ist azurblau und klar, gibt den Blick frei auf die beeindruckende Landschaft: Links liegt der Schlern, ein grüner Gebirgszug mit dichten Wäldern, rechts erheben sich die Gipfel und steilen Geröllhänge des Latemar, oben die Rosengartengruppe, benannt nach der Sage über König Laurin, die in der Abenddämmerung rot leuchtet.

Die Verwirrungsmomente nutzen

Zwischen zwei Tannen steht Benedict Mason, mit ernster Miene, und knipst Fotos. Er ist ein pedantischer Mann, dem zwar die Locken wild über die Ohren wachsen, der aber jedes Detail seiner Stücke kontrollieren, bewusst setzen möchte. Über hundertzwanzig Musikerinnen und Musiker hat er hierher beordert, mitten ins Gebirge: vierundzwanzig Hörner, sechsunddreißig Jagdhörner, vierundzwanzig Tuben, einen sechzig Stimmen starken Chor, drei Perkussionisten, einen Solotrompeter, einen Soloposaunisten, einen Solotubisten, einen Schauspieler, eine Schauspielerin, einen extrem tiefen Bass und eine Ultrasopranistin 262 . Der Dirigent, Clement Power, hat vorab mit jeder Gruppe einzeln gearbeitet, jetzt aber werden sie über sogenannte „click tracks“ synchronisiert und koordiniert: separaten Tonspuren, die den Instrumentalist:innen individuelle Rhythmussequenzen 180 vorgeben, die sie dann nachspielen. So entsteht ein kompliziertes, polyrhythmisches Flechtwerk, das man kaum notieren könnte.

  1. Kann nerven, aber auch erhellen. Sequenz bezeichnet eine bestimmte Abfolge von Noten, die auf verschiedenen Tonstufen wiederholt wird. Der Zuhörer hört so etwas Bekanntes in neuem Umfeld, andererseits aber auch keine wirklich neue musikalische Idee. Eine Verwendung erfordert das richtige Maß. (MH)

  2. Die vier Stimmgruppen bezeichnen heutzutage in erster Linie die Stimmlage, in der ein Mensch singt: Sopran ist die hohe Frauen- und häufig Melodiestimme, die Frauen im Alt sind nicht älter, sondern singen die tiefere Frauenstimme. Gleichermaßen ist der Tenor die hohe und der Bass die tiefe Männerstimme.

„Unsere Ohren haben eine unglaubliche Raumwahrnehmung.“

Benedict Mason (Komponist)

Außerdem hat Benedict Mason Skizzen gemalt. Er bewegt das Ensemble in großen Linien um und durch das Publikum, die Musik spielt mit Richtungsänderungen und verschiedenen Distanzen. „Ich finde es sehr faszinierend, mit Klängen aus der Ferne zu arbeiten“, erzählt Mason nach der Vorstellung. „Unsere Ohren haben eine unglaubliche Raumwahrnehmung. Die wird im Konzertsaal oder im Opernhaus nur selten herausgefordert. Ich liebe es, mit dieser Gabe unserer Ohren zu spielen und auch die Atmosphäre besonderer Orte zu nutzen für meine Kompositionen.“

Auch thematisch geht es in „Hotel Paradiso“ um die Nutzung von Räumen. Darum etwa, wie leicht sie umfunktioniert werden können, sei es von düsteren Folterkammern zu Luxushotels oder von Erholungsoasen zu Militärstationen. Konkret bezieht sich Mason auf die Hotelruine „Paradiso“ im Martelltal, am anderen Ende von Südtirol, wo die Aufführung ursprünglich stattfinden sollte. Das musste aus Sicherheitsgründen verworfen werden. Um dieses Hotel ranken sich viele Mythen und widersprüchliche Zeitzeugenberichte, die Mason in seinem Stück als ironische Zitatfetzen nutzt.

Sie küssen, hätscheln und wiegen eine Tuba wie ein Neugeborenes

Das ist ein komisches Theater: Die Schauspieler:innen tun allerhand seltsame Dinge, sie äffen die Opernstimmen nach, küssen, hätscheln und wiegen eine Tuba 97 wie ein Neugeborenes, werfen Steine, zauseln eine weiße Kordel durch das Publikum, verfangen sich darin, steigern sich in ekstatische Tänze, lesen lustige Zitate oder rufen Stichworte, die man nicht versteht. Die Perkussionisten laufen derweil umher mit großen Werkzeuggürteln und zimmern Geräusche zusammen mit verschiedenen Instrumenten oder Gegenständen, einer orangenen Blechtonne, Glasscherben, Txalapartas (baskischen Schlaginstrumenten aus Stein und Holz), Xylofonen, Schwirrhölzern. Rrrrraaaahhhh!!!, schreit der Chor wie ein sterbender Krähenschwarm, hockt sich hinter einen Haufen aus Ästen und Zweigen und singt ein Lied über die Taschenuhr. Und die Blechinstrumente mit und ohne Ventile spielen, tuten, tröten und kieksen dazu herrlich schön und schief.

  1. Tiefer geht’s kaum! Die Tuba ist das tiefste aller gängigen Blechblasinstrumente und ist in romantischen Sinfoniekonzerten meist doppelt besetzt. Das Hauptmerkmal ist die starke Erweiterung der Bohrung, dadurch wird es so herrlich tief. 2007 wurde es Zeit für einen Weltrekord: 286 Tuba-Spieler musizierten gemeinsam. Mööööööp! (CW)

Die Musik ist weder schön noch bahnbrechend neu, noch nicht einmal experimentell.

Das Ensemble aus Profi- und Laienmusiker:innen macht das großartig, mit viel Ernst und Enthusiasmus, auch wenn das Stück von Benedict Mason zwar Relevanz und Anspruch suggeriert, davon leider aber wenig einlöst. Es ist mehr eine Farce, ein ironisches kleines Spektakel, als ein Klangkunstwerk, wie Mason es behauptet – die Musik ist weder schön noch bahnbrechend neu, noch nicht einmal experimentell. Es läuft vieles übereinander und nebeneinander und vieles über Text, das ist manchmal so, als hätte man aus einem verrückten Hörspiel von Christoph Schlingensief Relevanz und Geistesgegenwart herausgefiltert, und übrig bleiben Witz und Wahnsinn. Denn das Stück bleibt in der Luft hängen, es wird nicht klar, wo es hinwill und was es sagen soll, die künstlerische Aussage versteckt sich hinter lustigen Phrasen, verschobenen Rhythmen, komischen Bewegungen, exotischen Instrumenten – und traut sich bis zum Ende nicht heraus. Und das Spiel mit Raum und Distanz ist zwar in der Theorie interessant, bleibt hier aber zum großen Teil ohne Wirkung. Dass Benedict Mason das Ganze dann noch nach dem Prinzip „copy & paste“ wiederholen lässt (aus vierzig Minuten werden – tadaa! – eine Stunde und zwanzig), und das ohne erkennbaren dramaturgischen Hintergedanken, macht es nicht gerade besser.

Das kann passieren und ist nicht weiter schlimm, denn ein Erlebnis ist dieses schräge Theater in den Bergen trotzdem, vor diesem großartigen, beeindruckenden und zugleich dramatischen Panorama. Die motivierten, tollen Musikerinnen und Musiker, Darstellerinnen und Darsteller machen es unvergesslich. Und das Transart Festival zeigt sich als offener Raum, als Experimentierfeld und Spielplatz für Verrücktheiten und unkonventionelle Ideen. Was wohl als nächstes kommt?

© Festival Transart/Samira Mosca
© Festival Transart/Gregor Khuen Belasi


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