Von Leah Biebert, 11.11.2023

Wie trägt uns die Musik?

Ein 24-Stunden Musik-Ritual – was erwartet einen da? „Weniger Stress, mehr Offenheit, mehr Gemeinsamkeit“, sagt Nik Bärtsch, Pianist und Mitglied der Gruppe MOBILE, im Interview. Gemeinsam mit seinen Kolleg:innen veranstaltet er regelmäßig Konzerte im Großformat – überall auf der Welt. Jetzt kommen sie damit erstmals nach Österreich. Für das Festival Montforter Zwischentöne haben sie ein Ritual entwickelt, das vom Motto des Festivals „Was trägt?“ inspiriert ist.

niusic: Nik, woher kam die Idee für ein so langes Konzertformat?

Nik Bärtsch: Als ich jünger war und mit dem Spielen begonnen habe, habe ich festgestellt, dass es normal war, schnelle und kurze Konzerte zu spielen. In den Clubs und auf Festivals ging es oft darum, eine Leistung abzuliefern. Als junger Mensch habe ich da die Sorgfalt vermisst und die Wahrnehmung von Musik als Gemeinschaftserlebnis. Gemeinsam mit Kolleg:innen habe ich dann begonnen, Musikrituale zu konzipieren. Das erste dauerte sechsunddreißig Stunden – weil wir in einem Kreis von 360 Grad gespielt haben. Das war in einer alten Fabrik, einem ehemaligen Bierlager. Wir haben den ganzen Raum gestaltet, mit Liegen und so, damit die Leute kommen und sich auf die Musik einlassen konnten. Auf den Raum, auf die Zeit, zusammen mit uns. Das war als wohlwollendes Angebot gemeint und kein avantgardistischer Angriff. Die Grundidee war: weniger Stress, mehr Offenheit, mehr Gemeinsamkeit und eine Einladung, zusammen die Musik und die Gemeinschaft zu feiern.

niusic: Und diese Idee ist bis heute geblieben?

Nik: Auch das Konzert bei den Montforter Zwischentönen ist eine Einladung. Es ist ein bisschen anders konzipiert, aber man kann auch hier zum Zuhören kommen, für ein paar Minuten bleiben und wieder gehen. Oder man bleibt eben für mehrere Stunden oder sogar die ganze Zeit. Es ist ein Angebot, kein Zwang.

Nik Bärtsch’ MOBILE

Mal funky, mal meditativ, dann wieder dramatisch aufgeladen – die akustische Musik der Gruppe MOBILE bildet ein facettenreiches Klanggebräu, in dem Elemente des Funk, der Minimal Musik und der neuen Klassik immer wieder neue Verbindungen eingehen. Dahinter stehen drei Musikerpersönlichkeiten unterschiedlicher Prägung: Der Altsaxofonist Sha bringt rhythmische Raffinesse und Ruhe ins Spiel. Drummer und Perkussionist Nicolas Stocker verbindet klassisches Interpretenbewusstsein mit Groovefähigkeit. Und Nik Bärtsch, Pianist und Spiritus Rector der Gruppe, bewegt sich an der Schnittstelle aus Reduktion und Wiederholung und verknüpft sie mit Elementen ritueller japanischer Musik. Begleitet werden die Konzerte des Trios von einer multimedialen Inszenierung im Raum, die der Szenograf Daniel Eaton gestaltet.

niusic: Wie hat das Publikum denn anfangs auf die Rituale reagiert?

Nik: In der Schweiz waren sie ein großer Erfolg. Viele Leute haben es geschätzt, dass sie sich in eine Art musikalische Raum-Zeit hineinbegeben und dort eine Weile bleiben konnten. Das ergibt eine wunderbare Atmosphäre, weil wir die Stimmung alle gemeinsam machen.

niusic: Wo habt ihr eure Rituale noch aufgeführt?

Nik: An verschiedenen Orten. Zum Beispiel im Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg, einem Turm, der wie eine Doppelhelix angelegt ist. Dort haben wir in der Mitte gespielt, das war ein fast evolutionäres Erlebnis. Dieses Ritual ging die ganze Nacht. Oder im Arts Center in Abu Dhabi. Dort haben wir einen Ort konzipiert, der an dem islamischen Ablauf der Gebetszeiten orientiert war, sodass die verschiedensten Menschen daran teilnehmen konnten.

niusic: Und wie können wir uns so eine Teilnahme vorstellen? Wie verhält man sich als Zuhörer:in bei Euren Ritualen?

Nik: Bei den meisten Konzerten muss man sitzen oder sich konzentrieren. Bei den Ritualen aber machen wir verschiedene Angebote: Man kann einfach nur dasitzen und meditieren. Man kann sehr spezifisch zuhören. Man kann sich an verschiedene Orte im Raum begeben und erleben, wie die Musik sich verändert. Manche Leute wollen tanzen und es gibt Phasen in der Musik, wo man das machen kann. Es ist eine Einladung an die Menschen, auf ganz verschiedene Arten auf die Musik zu reagieren.



niusic: Du hattest erwähnt, dass auch die Raumgestaltung eine Rolle spielt. Was habt ihr für das Konzert im Montforthaus geplant?

Nik: Der Raum im Montforthaus ist per se eigentlich schon sehr schön und interessant. Wenn wir an so einem Ort spielen, wollen wir immer auch seine Besonderheiten betonen – die Akustik, die Raumarchitektur an sich. Das machen wir mit Licht, dem Setting und der Idee, wie man von außen in den Raum hineinkommt und wie man sich darin bewegen kann. Im Montforthaus können wir in der Mitte des Raumes spielen. Und der Raum für das Publikum drumherum ist sehr offen: Es gibt Liegen, Bänke und die Möglichkeit, von verschiedenen Orten aus zuzuhören. Und es wird eine Sanduhr geben, die die Stunden anzeigt: Wir haben die Abläufe für sechs mal vier Stunden konzipiert.

niusic: Und kannst Du uns erklären, was das Rituelle an diesen Konzerten ist?

Nik: Wir legen für jedes dieser Konzerte ein Ritual fest, das sich auf den Ort und den Ablauf bezieht. In Abu Dhabi haben wir uns damals an den Gebetszeiten orientiert, aus Respekt vor der dortigen Community. Im Montforthaus ist das Setting eher experimentell, in einem Rahmen von vierundzwanzig Stunden. Aber es ist wichtig, diesen Zeitraum zu strukturieren. Darum haben wir diesmal ein vierstündiges Ritual gewählt, auf das unsere dramaturgischen Bögen ausgerichtet sind. Das gibt uns Halt – wie auch ein Ritual immer Halt gibt. Dazu gehört auch, dass wir mit Elementen arbeiten, die sich wiederholen. Dass man zum Beispiel ein Stück während des gesamten Rituals fünf Mal hört. Das kennen wir aus normalen Konzerten eher nicht, dort möchten wir immer Neues erleben. Aber es ist eben auch spannend, Dinge erneut zu hören und Unterschiede festzustellen. Wir wollen damit eine Art kohärenten Bedeutungsraum kreieren.

Die Montforter Zwischentöne

niusic: Ist das Konzert dann komplett durch- beziehungsweise vorkomponiert? Oder gibt es auch improvisatorische Momente?

Nik: Vieles basiert auf komponiertem Material, das wir zusammen arrangiert haben. Wir spielen sonst ja auch normale Konzerte, die sich im Bereich zwischen klassischer Musik und Jazz bewegen. Es gibt dort durchkomponierte Kammermusikteile, die eine sehr rhythmische, intensive, dichte Art an sich haben. Wir sind es gewohnt, mit diesem Material zu arbeiten und damit auch zu improvisieren. Das hat aber weniger Jam-Charakter, sondern ist sehr sorgfältig gestaltet mit minimalistischen, langsamen Entwicklungen. Die Musiker sind dann gefordert, diese Spannung ständig zu halten.

niusic: Im Verlauf des Rituals gibt es immer wieder sogenannte „Schwerpunktkonzerte“. Was hat es damit auf sich?

Nik: Das Konzert folgt einer klaren Dramaturgie. Innerhalb dieser gibt es Hauptkonzerte, die sehr dicht und sehr klar strukturiert sind. Sie funktionieren wie Magneten, weil dort am ehesten eine Spannung entsteht, die einem normalen Konzert ähnelt. Zwischendrin gibt es dann aber wieder Zonen, die viel offener sind. Da arbeiten wir modular mit der Musik der Hauptkonzerte und entwickeln sie über eine längere Zeit hinweg. Dadurch entstehen dann ganz andere minimalistische Entwicklungen.



niusic: Sind diese unterschiedlichen Phasen dann auch den Tages- und Nachtzeiten angepasst?

Nik: Auf jeden Fall. Wir achten sehr drauf, welche Energie wann sinnvoll ist. Zu den Hauptkonzerten am späten Samstagnachmittag oder -abend kann zum Beispiel eine Familie kommen und eine Stunde lang sehr intensiv Musik hören und zugucken, wie die Musiker und Musikerinnen spielen. Und in der Nacht, also im Zeitraum von zwölf bis vier Uhr, wird es einen sehr meditativen Space geben, in dem man abtauchen kann oder sogar ein bisschen dösen. Wir müssen ja auch auf uns selbst achten und schauen, dass wir die Spannung halten können.

niusic: Wie haltet Ihr das denn durch, so lange zu spielen?

Nik: Das war von Beginn an eine Frage, die im Raum stand: Wie trägt uns die Musik überhaupt? Wir wussten nicht, wie das gehen soll. Unsere Vorbilder waren rituelle Musiken und Musikrituale von verschiedenen Orten der Welt, wo drei Tage lang gespielt oder eine Zeremonie gefeiert wird. Beim Sport ist es ähnlich: Wir kennen kurze Sportarten, die in der Regel nicht länger als neunzig Minuten dauern. Und dann gibt es welche, die tagelang dauern, Cricket-Spiele zum Beispiel. Da entsteht dann ein ganz anderes Zeitempfinden. Für uns Spieler ist es wichtig, dass wir uns auf dieses Setting einlassen. Und wir haben gemerkt, dass uns die Musik und die Gemeinschaft viel mehr tragen als wir je gedacht hätten. Es entsteht eine ganz andere Präsenz als bei kürzeren Formaten.

„Die Idee ist, dass die Musik trägt, und nicht, dass man eine Guinness-Buch-Leistung erbringt.“

Nik Bärtsch

niusic: Gibt es denn auch Momente, in denen jemand von Euch kurz aussteigt, um beispielsweise etwas zu essen?

Nik: Ja klar. Das Setting ist auch für die Musikerinnen und Musiker kein Zwang. Es wird eine Form geben, eine Zeremonie, innerhalb derer man aus dem Kreis herauskommt. Es gibt Solos, Duos und Teile, die sehr leer sind. Und die Idee war nie, dass man durchhalten muss. Es ging immer um die Frage, wieviel Flow wir kreieren können, damit wir uns wohlfühlen. Die Idee ist, dass die Musik trägt, und nicht, dass man eine Guinness-Buch-Leistung erbringt.

niusic: Wie regelmäßig veranstaltet Ihr diese längeren Formate? Ich kann mir vorstellen, dass das insgesamt ja doch recht aufwendig und fordernd ist.

Nik: Genau, deshalb machen wir das nicht allzu oft. Das Setting muss stimmen, der Partner muss stimmen, und auch die Infrastruktur. Als wir jung waren, war das noch ein bisschen experimenteller. Aber heute muss alles sorgfältig geplant sein. Denn die Musik findet auf sehr hohem Niveau statt – das ist auch unser Anspruch. Deshalb geht das auch nur mit Veranstaltern, die das wirklich wollen und unterstützen. Also sagen wir: einmal im Jahr, in der Regel, oder sogar nur alle zwei Jahre.

Nik Bärtsch´ MOBILE: 24-Stunden Musik-Ritual

Ghost Notes Tag und Nacht – mit fünf Schwerpunktkonzerten

Montforthaus Feldkirch

Sa, 18. November ab 16 Uhr bis durchgehend
So, 19. November, 16 Uhr

Schwerpunktkonzerte: Samstag 16 / 20 / 24
und Sonntag 8 / 12 Uhr

Kommen, Gehen und Wiederkommen jederzeit möglich

Tickets erhältlich auf der Website der Montforter Zwischentöne

© Claude Hofer


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