Von Hannah Schmidt, 04.06.2020

Spiegel im Spiegel

Von den Covid-19-Absagen blieben auch die Festspiele Bergen nicht verschont, Norwegens ältestes und größtes Kulturfestival. Vom Aufgeben und Abwarten hielt man hier jedoch nicht viel und zog komplett ins Internet um. Ein Gespräch mit Intendant Anders Beyer.

niusic: Herr Beyer, was war Ihr erster Gedanke, als Sie erfuhren, dass die Festspiele nicht in der gewohnten Form stattfinden dürfen?

Anders Beyer: Tatsächlich hatten wir schon damit gerechnet und bereits darauf gewartet, dass die Regierung so oder so ähnlich entscheiden würde. Zu diesem Zeitpunkt waren ja Festivals wie Edinburgh und Bayreuth bereits abgesagt. Wir haben die Konsequenzen gezogen und das Festival umstrukturiert, wir mussten 2000 Künstler:innen wieder ausladen, die großen Gastspiele absagen – und gleichzeitig haben wir neue Leute engagiert, um die Konzerte, wie sie jetzt sind, produzieren und zeigen zu können.

niusic: Warum haben Sie nicht, wie die anderen auch, ganz abgesagt? Wäre das nicht einfacher gewesen?

Beyer: Da wir keine Karten verkaufen können, haben wir dieses Jahr 10 Millionen Norwegische Kronen (ca. 930.000 Euro) verloren. Leider war es nicht möglich, die internationalen Künstler:innen einzuladen, und dadurch haben wir einen Teil des Budgets gespart. Gleichzeitig haben uns unsere Stakeholder, der Staat, das Land, die Stadt und die privaten Sponsoren aber versichert: Wenn ihr das Festival digital stattfinden lasst, könnt ihr die Fördergelder behalten. Sie auch noch zu verlieren, wäre eine Katastrophe gewesen, denn das Festival nächstes Jahr ist schon geplant. Gleichzeitig haben wir uns schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken beschäftigt, die Festspiele zumindest digital auszuweiten – denn Bergen ist als Stadt eigentlich zu klein für etwa 100.000 Besucher:innen jedes Jahr.

„Niemand, der nicht involviert ist, darf das Gebäude betreten, nicht einmal ich.“

Anders Beyer

niusic: Sie haben sich dazu entschieden, die Ensembles und Künstler:innen live spielen zu lassen, in einem gemeinsamen Raum mit Sicherheitsabstand. Ist das nicht immer noch ein großes Risiko?

Beyer: Nun, Dänemark und Norwegen gehörten zu den ersten Ländern, die einen Shutdown beschlossen und Menschen isoliert haben. Wir halten uns an die Vorgaben und Regeln: Niemand, der nicht involviert ist, darf das Gebäude betreten, nicht einmal ich. Draußen stehen Aufpasser:innen und schauen, dass sogar die Musiker:innen vorher und nachher komplett voneinander getrennt sind. Ich würde sagen, da ist es vergleichsweise leichter, sich draußen auf der Straße im eigenen Auto anzustecken.

niusic: Das Eröffnungskonzert war ein solches Livekonzert, unter anderem mit Werken des diesjährigen Festivalkomponisten Jörg Widmann, zum Beispiel das Orchesterwerk „Con Brio“, aber auch Werke wie Arvo Pärts filigranes „Tabula Rasa“ und Einar Selviks Solostück „Völuspá“. Wie geeignet ist der digitale Raum für solche Musik?

Beyer: Die Räume, in denen wir Musik hören, sind in vielen Fällen schon lange nicht mehr wirklich geeignet: Kammermusik ist für kleine Räume komponiert, aber wir hören sie in großen Konzerthallen oder von Interpreten wie Lang Lang in riesigen Arenen. Da hören 10.000 Menschen zu, wie wir Schubert spielen, Musik, die für einen kleinen Raum, für fünf bis zehn Leute geschrieben ist. Das ist verrückt. Man sollte ein Beethoven-Streichquartett in einem Wohnzimmer hören, den Schweiß riechen, die gleiche Luft atmen. Gleichzeitig ist es für mich das absolut Schönste, eine Sinfonie in einem Konzertsaal zu hören, das könnte man niemals digital transformieren. Ich glaube aber, das Digitale kann eine gute Ergänzung sein zu der Art, wie wir die historische Musik konsumieren – denn wenn man einmal schaut, wie die Orchester auf der Welt programmieren und die Musik präsentieren, fühlt man sich schon, als betrete man ein Mausoleum …

Intendant Anders Beyer

niusic: Was meinen Sie?

Beyer: Sogar die Wiener Philharmoniker spielen mittlerweile die Musik aus den Star-Wars-Filmen. Sie sind verzweifelt! Das Klassikpublikum stirbt, überall sieht man graue Haare. Wenn all diese Orchester so weitermachen und weiterhin mit dieser Energie und auf diese altmodische Art die Musik toter männlicher Komponisten balsamieren – warum sollten wir das unterstützen? Die Zukunft sieht dann düster aus. Wir müssen Konzerte neu programmieren und wir müssen neue Formate finden. Wenn wir ein starkes historisches Bewusstsein entwickeln wollen, davon, wo wir herkommen, müssen wir das Konzert neu denken. Wir werden nicht überleben, indem wir Star Wars spielen und hier und dort ein bisschen buntes Licht auf die Bühne richten.

niusic: Wie kann das klassische Konzert denn dann überleben?

Beyer: Wenn ich das wüsste! Ich denke, man muss beginnen, Kunst als den ersten Schritt einer interessanten Konversation zu verstehen. Wer sind wir in einer modernen Gesellschaft? Die Kunst kann da sein wie ein Spiegel der Gesellschaft, und der:die Zuhörer:in spiegelt die Kunst zurück. Man muss spüren: Es geht da auch irgendwie um mich, ich sehe, was passiert, ich war an diesem Ort, ich kann den Schmerz fühlen. Kunst auf diese Weise reflektierbar zu machen kann ein Weg sein, den alten Werken eine neue Relevanz zu verleihen. Das geht natürlich damit einher, dass man mit den alten Regeln bricht, indem man Dinge neu kombiniert, zu einer Art Matchmaker wird – von interessanten Menschen und interessantem Stoff.

niusic: Ist das der Grund, warum Sie in manchen der Produktionen dieses Jahr selbst Corona thematisieren? Andere hätten sich vielleicht dafür entschieden, „einfach Musik“ zu machen.

Beyer: Wir haben das Festival mit einem internationalen Gipfel eröffnet, auf dem wir Kultur in diesen Corona-Zeiten diskutiert haben, darüber, wie die Zukunft aussehen kann und wie wir mit der Situation am besten umgehen. Bei dem Gipfel waren vier Minister:innen zu Gast, was zeigte, dass Kunst nicht einfach nur für das Kulturministerium relevant ist. Kultur und Kunst sind keine hübsche Dekoration für eine Gesellschaft. Kultur ist das, was uns verbindet, was uns dazu befähigt, Entscheidungen zu treffen. Sie ist von dem, was in einer Gesellschaft passiert, nicht zu subtrahieren. Wir müssen zu einem Diskurs darüber kommen, was es bedeutet, Kunst zu machen, was es bedeutet, sich zu erneuern, innovativ zu sein, präsent, relevant für ein neues, jüngeres Publikum. Darüber sollten meiner Meinung nach auch die Redakteur:innen von Magazinen nachdenken …

„Ich vermisse das Kreative, neues Denken, wie Medien funktionieren können.“

Anders Beyer

niusic: Jetzt werde ich hellhörig. Erzählen Sie weiter!

Beyer: Vielfach präsentieren sie einfach. Sie schreiben über Kunst, wie sie es immer schon getan haben. Ich vermisse das Kreative, neues Denken, wie Medien funktionieren können. Wir haben mittlerweile über eigene Online-Plattformen einen direkten Zugang zu unseren Besucher:innen, und immer wieder hört man deshalb: Wir brauchen keine anderen Medien mehr, wir brauchen keine Kritiker:innen mehr, wir haben doch unsere Fans. Aber Kritiker:innen sind als starker Kontrapunkt und Diskussionspartner so wichtig!

niusic: Da bin ich ganz bei Ihnen. Gleichzeitig werden Stellen gestrichen und wird vielfach gerade an kulturellen, rezensierenden Formaten gespart …

Beyer: Wenn wir dann als Festival anbieten, die Reisekosten für eine:n Journalist:in zu übernehmen, lehnen sie aber auch ab, weil sie unabhängig bleiben wollen.

niusic: Was aus journalistischer Sicht völlig richtig ist.

Beyer: Und trotzdem brauchen wir die öffentliche Kritik, den ehrlichen Diskurs über unsere Kunst. Vielleicht sogar dringender als je zuvor.

niusic: Wie kann das funktionieren? Es ist ja nicht damit getan zu schreiben, ob hier mal ein Ton unsauber war oder das Orchester geschleppt hat. So zumindest verstehe ich Musikkritik: Als eine Art Übersetzung, Deutung und Interpretation der Kunst im Hinblick auf die Zeit, in der sie stattfindet. Was denken Sie?

Beyer: Ja, vielleicht ist es nicht wichtig, ob ein Ton ein bisschen zu hoch oder zu tief war, aber die Frage ist wichtig, was das bedeutet. Was bedeutet es, wenn Beethoven etwas schreibt und die Interpretation uns etwas anderes erzählt? Was bedeutet das für uns? Adorno hat gesagt, der:die Kritiker:in soll auf dem gleichen Level denken können wie der:die Komponist:in. Ich meine, das waren andere Zeiten. Aber wenn man Journalist:innen heute vor allem darum bittet, über Sport und Essen zu schreiben, zieht man nicht unbedingt die besten Leute an. Das ist ein Teufelskreis. Aber darum geht es: Wir müssen mehr miteinander reden. Herausfinden, warum wir tun, was wir tun, ich in meinem und Sie in Ihrem Job.

„Jörg Widmann weiß, wie die Instrumente funktionieren, für die er schreibt, und dafür lieben ihn die Musiker:innen.“

Anders Beyer

niusic: Da mag ich direkt einhaken, bezüglich Ihres Jobs: Dieses Jahr ist Jörg Widmann Festivalkomponist. Warum er?

Beyer: Wenn man seine Musik hört, hört man zugleich Schubert, Schumann, Beethoven. Man hört, dass er auf Bachs Schultern steht, sozusagen. Und gleichzeitig ist er ein Komponist, wie Mozart es war: In erster Linie Musiker, Klarinettist, der dann anfing, seine Improvisationen aufzuschreiben. Er weiß, wie die Instrumente funktionieren, für die er schreibt, und dafür lieben ihn die Musiker:innen. Seine Musik ist neu und gleichzeitig zugänglich, nicht festgefahren. Modern und gleichzeitig so, dass ein zeitgenössisches Publikum seine Werke genießen kann. Man kann sie 100.000 Zuhörer:innen präsentieren und sie mögen es – und trotzdem ist die Musik avantgardistisch, im besten Sinne des Wortes.

niusic: Das klingt, als zögen Sie eine Grenze: Zeitgenössische Musik, die in gewisser Weise für ein größeres Publikum „zumutbar“ ist, und zeitgenössische Musik, die es nicht ist. Was sind da die Kriterien? Zählt beispielsweise Helmut Lachenmanns Musik dann zu der „nicht zumutbaren“ Sorte?

Beyer: Da stecken Sie mich in eine Ecke, die ein bisschen gefährlich für mich ist. Natürlich ist jemand wie Helmut Lachenmann einer meiner Lieblingskomponisten, er ist auch schon hier aufgetreten, was sehr schön war. Nur muss man wissen, dass sein Publikum ein sehr kleines ist. Nicht, dass ich nur Komponist:innen einlade, die ein großes Publikum anziehen. Aber wir sind kein Festival für zeitgenössische Musik. Dabei ist wichtig zu sagen, dass wir kein Museum sind, wir haben ein Budget, das uns wirklich verrückte Sachen erlaubt, avantgardistische Produktionen etwa in Kooperation mit zum Beispiel den Berliner Festspielen – und die setzen wir auch um. Da verstehen wir uns als Eisbrecher in der Festivalszene.

© Joar Nango
© Thor Brødreskift
© Hans Jørgen Brun


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