Von Jesper Klein, 29.03.2018

Beats statt Beethoven

Von Techno bis softer Klaviernummer hat der luxemburgische Pianist Francesco Tristano alles im Programm. Die Klassiker der Klavierliteratur spielt er nicht. Ein Gespräch über Sound, den Umgang mit Kritik und die Zukunft der klassischen Musik.

Francesco Tristano macht vieles, was in der Klassikwelt eigentlich verrufen ist: Techno, Elektronik, Minimal Music. Nun ist er mit seinem neuen Album „Piano Circle Songs“ auf Tour, das er gemeinsam mit Chilly Gonzales aufgenommen hat. Der Technofan kommt hier jedoch eher mit seichter Piano-Berieselung um die Ecke. Dabei hat er eine klassische Ausbildung durchlaufen. Abgesehen von Bach meidet Tristano jedoch die vermeintlichen Meilensteine der Klavierliteratur. Ein ungewöhnlicher Weg. niusic-Autor Jesper Klein trifft ihn Backstage vor seinem Konzert beim Heidelberger Frühling. Die Zeit ist knapp, der Soundcheck hat länger gedauert.

niusic: Du bist ein klassisch ausgebildeter Pianist, machst jetzt aber vor allem Crossover und Techno. Wie kam es dazu?

Francesco Tristano: Das geht zurück auf die Kindheit und die Erziehung. Wenn man mit strengen klassischen Eltern groß wird, ist man erstmal klassisch unterwegs. Bei mir war das nicht so. Meine Mutter hat viel Klassik gehört, Bach und Wagner zum Beispiel. Aber auch Pink Floyd und Kraftwerk. Das hat mich beeinflusst. Klassik war der erste Schritt, aber eigentlich wollte ich Jazz-Pianist werden. Dann habe ich gemerkt, dass der Jazz wie die Klassik eine geschlossene Welt ist. Da hat mir die elektronische Musik die Tür geöffnet.

niusic: Gab es einen Punkt, an dem Du gemerkt hast: Nur Klavierspielen, so wie es ein Konzertpianist tut, das reicht mir nicht, ich brauch was anderes?

Tristano: Nein. Die Frage, was es neben dem Klavier noch gibt, habe ich mir aber oft gestellt. Die Elektronik hat mir eine Antwort gegeben. Und so hatte ich eine Arbeit, die nicht darin bestand, stundenlang zu üben. Ich konnte einfach Musik machen.

niusic: Braucht man als Pianist heute ein Markenzeichen, um überhaupt wahrgenommen zu werden?

„80 Prozent der Klavierabende bestehen aus der gleichen Musik, da ist es schwer, einen Unterschied zu machen.“

Francesco Tristano

Tristano: Das Klavierrepertoire ist riesengroß, man muss sich spezialisieren. Wenn man sich auf Komponisten spezialisiert, die nicht Mainstream sind, hat man bessere Chancen. 80 Prozent der Klavierabende bestehen aus der gleichen Musik, da ist es schwer, einen Unterschied zu machen. Jedes Jahr kommen zehn neue Aufnahmen von Beethovens „Appassionata“ dazu.

niusic: Weil das Publikum die „Appassionata“ hören will …

Tristano: Das ist das Beatles-Problem. Die Beatles haben nach drei Jahren aufgehört, live zu spielen, weil sie sagten: Wir spielen unsere Stücke, und die Leute singen so laut mit, dass wir uns selbst nicht mehr hören. Ich habe recht schnell gemerkt, dass ich mit der Romantik wenig am Hut habe. Ich fühle mich nicht wohl in einer Rolle, die mir nicht steht. Mich interessiert die Neue Musik und die Alte Musik. Die hat auf dem Klavier eigentlich nichts zu suchen, weil es das Klavier, so wie wir es kennen, da noch gar nicht gab.

niusic: Wir denken ja oft in Schubladen. Barock, Romantik, Neoklassik, Techno. Du bist irgendwo dazwischen unterwegs.

Tristano: Schubladen limitieren, für mich hat Musik keine Grenzen.

niusic: Im Buchladen bekommt jedes Buch ein Etikett – da steht dann zum Beispiel Roman drauf. Siehst du die Gefahr, zwischen den Schubladen verloren zu gehen?

Tristano: Mit Büchern ist es anders, Bücher sind fertige Produkte. Musik ist nicht in Stein gehauen, man kann sie nicht sofort definieren. Ich mag es, ins Konzert zu gehen und nicht zu wissen, was mich erwartet. Ich finde es spannend, das Publikum auch mal in die Irre zu führen.

niusic: Du hast gerade beim Soundcheck sehr genau auf das Licht geachtet. Was sollte das?

Tristano: Das Licht ist mindestens so wichtig wie die Musik. Das vermisse ich im klassischen Konzertsaal. Das grelle, weiße Licht, das sich nicht bewegt – schrecklich. Ich möchte, dass der Lichtingenieur mir folgt und meine Musik der Stimmung nach belichtet. Dann spiele ich auch besser.

niusic: Funktioniert das auch bei klassischer Musik?

Tristano: Auf jeden Fall. Wenn es der Saal ermöglicht, mache ich das. Aber in den meisten klassischen Locations geht es nicht.

„Ich höre manchmal sehr gute Musik in Wartesälen und Aufzügen!“

Francesco Tristano

niusic: Du bist klassisch ausgebildeter Pianist, spielst aber, was nicht der Norm entspricht: Da gibt es sicher Kollegen, die das flach finden oder langweilig.

Tristano: Das ist okay, das können sie ruhig sagen. Musik ist keine Überzeugungskunst, höchstens eine Unterhaltungskunst. Mozart war ein großer Unterhalter und ein großer Komponist. Das schließt sich nicht aus. Mir ist das egal, ich will niemanden bekehren. Vielleicht findet ein Raver es heute Abend langweilig. Man kann nicht alle Leute begeistern.

niusic: Ich habe Dir ein Kritiker-Zitat mitgebracht zu deinem neuen Album: „Musik, die sich dazu eignen würde, das Aggressionslevel im Wartebereich Berliner Bürgerämter spürbar zu senken“.

Tristano: Ich höre manchmal sehr gute Musik in Wartesälen und Aufzügen! Mich begeistert dann, wie Sounddesign die Atmosphäre in einem Raum verändern kann.

niusic: Ich glaube, es ist in diesem Fall nicht als Kompliment gemeint …

Tristano: Ich weiß es nicht, ich finde das noch ganz okay. Die Aggression zu senken, ist ja nicht so schlecht.



niusic: Liest Du überhaupt, was wir Musikjournalisten hier so verzapfen?

Tristano: Es wäre eine Lüge zu sagen, dass ich gar nichts damit zu tun habe. Aber es ist nicht mein Hauptinteresse. Oft bekommen Platten einen Stempel: Diese Platte ist gut, diese Platte ist schlecht. Darum geht es mir nicht. Für mich ist das „work in progress“, ein ständiges Weiterdenken. Insofern sind Musikkritiken nicht sehr hilfreich. Sie sehen nur das Endprodukt, nicht die Entwicklung.

niusic: Wie entwickelst Du Dich denn weiter?

Tristano: Ich hätte Lust, eine Underground-Techno-Platte zu machen. Aber ich bleibe jetzt doch erstmal beim Klavier. Etwas mehr Synthesizer, mehr Postproduktion.

Francesco Tristano

niusic: Welche Rolle spielt die Nachbearbeitung beim Sound für Dich?

Tristano: Einen guten Pianisten erkennt man am Sound. Der liegt zwar zu einem großen Teil in den Fingerspitzen, aber auch in der Aufnahme. Im Popbereich ist das heute Standard. Aber die klassischen Pianisten interessieren sich kaum für Sound, für die Platzierung der Mikrofone. Deswegen klingen viele Aufnahmen so gleich. Ich möchte sehen, wie der Sound sich noch weiterentwickeln kann.

niusic: Eine Kollegin hat über die neue CD von Teodor Currentzis geschrieben, dass es Verfälschung ist, wenn man den Sound so poliert, wie man ihn im Konzert nie hören würde.

Tristano: Es geht nicht darum, die Konzerterfahrungen zu imitieren. Zuhause hört man anders Musik, mit Kopfhörern nochmal anders. Das Live-Konzert nachahmen zu wollen, das ist die Fälschung. Eine Produktion gut klingen zu lassen, ist keine Fälschung. Live-Konzert und Studioaufnahme sind zwei grundverschiedene Dinge.

niusic: In der Klassik ist es momentan ja eher Trend, Musik so zu spielen, wie sie zur Entstehungszeit geklungen hat …

Tristano: Das geht ja gar nicht.

niusic: Stichwort „Historische Aufführungspraxis“ 122 .

Tristano: Das war ein wichtiger Schritt, ganz besonders nach der Pseudo-Renaissance der Barockmusik mit romantischen Mitteln. Aber mir soll keiner sagen, dass eine Aufnahme von 2018 so klingt wie von 1750, das ist unmöglich.

niusic: Also eine Sackgasse?

Tristano: Ein wichtiger Weg, kein Resultat. Die Instrumente sind nicht dieselben, die Säle sind nicht dieselben. Ich versuche, darauf zu achten, wenn ich spiele. Ich brauche bei Bach nicht die Pedale und die Fortissimi.

  1. Darf man Bach auf dem Klavier spielen, obwohl es das Instrument im Barock noch nicht gab? Geht Haydn nur bei Kerzenschein? Der Streit um eine historisch korrekte Aufführungsweise oder -praxis begann schon bei Mendelssohn-Bartholdy, und noch heute wird geforscht, probiert und diskutiert, wie man auf historischen Instrumenten oder zumindest „historisch informiert“ spielt. (AJ)

„In der Elektronik machen viele Leute Musik, die keine Ahnung von Musik haben.“

Francesco Tristano

niusic: Du sagtest mal, Bach sei ein Gear-Freak. Bist Du auch einer?

Tristano: Klar. Synthesizer, Drum Machines, ich liebe das. Aber es nimmt auch viel Zeit in Anspruch. Irgendwann muss man stoppen mit dem ganzen Gear und an die Arbeit gehen. Neue Instrumente, neue Technologien, das war immer schon Inspiration. Die Instrumente entwickeln sich weiter: Bach und die Orgel, Mozart und das Bassetthorn. Bei Haydn war dann das Pedal das „hot trending topic“ …

niusic: Was ist für Dich gerade das „hot trending topic“?

Tristano: (überlegt lange) Anthropozän.

niusic: Weil?

Tristano: Weil ich mir die Frage stelle, wie wir in der aktuellen Situation gelandet sind. Irgendwann muss die Ökologie in die Mitte des Schachspiels gesetzt werden.

niusic: Was hat das mit Deiner Musik zu tun?

Tristano: Architektur hat den Wert, dass man ein Dach über dem Kopf hat und nicht im Regen schlafen muss. Musik hat eigentlich keine Aufgabe, aber sie macht das Leben einfacher und besser.

niusic: Ich merke, wir sind bei den großen Fragen. Was hört der Mensch in 50, 100, 200 Jahren?

Tristano: Ich bin weder Prophet noch Futurist. Es gibt viele neue Instrumente, die jeder spielen kann. In der Elektronik machen viele Leute Musik, die keine Ahnung von Musik haben.

niusic: Ist das gut oder schlecht?

Tristano: Beides. Es ist gut, weil Leute Musik machen können, die sonst nicht die Fähigkeit dazu hätten. Aber es verfälscht auch das musikalische Schaffen, wenn man Software hat, die alles von allein macht.


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