Von Thilo Braun, 11.09.2018

Sind wir noch zu retten?

Immer mehr südkoreanische Sänger*innen kommen für Studium und Jobs nach Deutschland. Wer profitiert am Ende wirklich davon? Beim ARD-Musikwettbewerb in München gehen wir Ursachen und Klischees auf den Grund.

Zunächst die Fakten: Jede dritte Bewerbung im Fach Gesang kam beim diesjährigen ARD-Musikwettbewerb aus Südkorea. Mit 88 Bewerbungen toppten die Südkoreaner damit sogar die Anzahl der Deutschen, die ein gutes Fünftel ausmachen. Zugelassen wurden von der Jury 17 Südkoreaner und 12 Deutsche – zusammen die Hälfte aller Wettbewerbsteilnehmer in dieser Kategorie.

Überrascht haben diese Zahlen allerdings nicht. Denn das Bild, das man von den Musikhochschulen kennt, sieht ähnlich aus: Jedes Jahr bewerben sich in Deutschland rund 7000 Südkoreaner, die meisten im Konzertfach. Was ist der Grund für dieses Phänomen? „Das Musikstudium ‚made in Germany‘ gilt im Ausland als Marke. Die deutschen Konservatorien können sich vor dem Ansturm asiatischer Bewerber kaum retten“, schreibt der Spiegel – womit wir in der Debatte gelandet wären. Denn ob der „Ansturm“ der Koreaner und Chinesen eine Gefahr darstellt, vor der es sich zu „retten“ gilt, oder ob man eher stolz sein sollte über so viel internationales Interesse an deutscher Bildung – darüber gehen die Meinungen auseinander.

Kritiker behaupten gerne, es ginge vor allem ums Prestige (siehe Spiegel). Deutsche Preise und Abschlüsse vergolden jeden Lebenslauf, bei südkoreanischen Frauen sollen sogar die Chancen auf dem Heiratsmarkt steigen. Die Tatsache, dass ein Studium in Deutschland auf Grund staatlicher Zuschüsse zudem noch günstiger sein kann als in der Heimat, sorgt hierzulande zusätzlich für Unmut. Der baden-württembergische Rechnungshof hat vor ein paar Jahren sogar eine Begrenzung ausländischer Studierender gefordert. Wieso sollten deutsche Steuerzahler Studierende aus Fernost finanzieren?

Klar geht es auch um Prestige – die Motivation wurzelt aber tiefer.

Ich frage die Koreaner in München. Warum Deutschland? Warum gerade der ARD-Musikwettbewerb? „Ich möchte in Deutschland singen“, sagt Pureum Jo. Die Sopranistin ist dabei eigentlich gut im Geschäft: Nach ihrer Ausbildung an der New Yorker Juilliard School wechselte sie ins Opernstudio nach Houston und steht seitdem regelmäßig auf der Bühne. Trotzdem: Ein paar Jahre möchte sie in Deutschland leben und arbeiten, der Wettbewerb soll dafür den Weg ebnen.
Klar geht es da auch ums Prestige – die Motivation wurzelt aber tiefer. Alle Koreaner betonen im Gespräch, wie wichtig ihnen der Kontakt mit der deutschen Mentalität und Sprache ist. Der Tenor Jaeil Kim bringt es auf den Punkt: „Klassische Musik gehört eigentlich nicht zur koreanischen Kultur. Deshalb müssen wir hier die Kultur kennenlernen, um uns richtig auszudrücken.“

Paradoxerweise ist die Begeisterung für klassische Musik in Korea um ein Vielfaches ausgeprägter als in Europa. Während hierzulande Musikvermittler daran verzweifeln, der breiten Bevölkerung die Relevanz klassischer Musik einzutrichtern, sind selbst große Säle in Korea rasend schnell ausverkauft – bei horrenden Preisen! Viele europäische Musiker erzählen nach Asien-Tourneen von jungen Klassikfans, die sie wie Popstars bejubelt hätten.
Woran es allerdings hakt, ist die Infrastruktur. Während die Dichte an Opern- und Konzerthäusern in Deutschland so hoch ist wie nirgends sonst, fehlt es in Südkorea an Auftrittsmöglichkeiten. Wer einen Job bekommen will, muss internationale Opernerfahrung mitbringen – und die sammelt man am besten an Deutschlands Stadttheatern.

In Korea wird Musik als Reliquie verehrt. Und die Heiligen kommen aus Europa.

In Korea ist Klassik (noch stärker als hierzulande) das Symbol einer reichen, intellektuellen Elite. „Klassik in Korea steckt im Anzug“, sagt Jaeil Kim. Der Tenor lebt seit drei Jahren in Deutschland und ist heute als Nachwuchssänger im Frankfurter Opernstudio. Wie sein Heimatland mit klassischer Musik umgeht, stört ihn: „Es ist alles sehr heilig und ordentlich.“ Musik wird nicht als Ausdrucksmittel gefeiert, sondern als Reliquie. Und die Heiligen, die kommen aus Europa.

Aufnahmen und Konzerte berühmter Sänger haben die Vorstellung einer „richtigen“ Art zu singen geprägt. Das überträgt sich auf den Unterricht. Jaeil Kim erinnert sich an seinen Bachelor in Seoul: „In Korea steht Technik im Mittelpunkt. Das ist wichtiger als Sprache, Bedeutung und Kultur.“ Und in Deutschland? „Da ist es anders herum.“
Alle Gesprächspartner, egal ob Deutsche oder Koreaner, bestätigen diese Tendenz. Dazu passt ein weiteres Klischee über asiatische Musiker: Technisch können sie’s, aber interpretatorisch? Naja.

Auch beim ARD-Musikwettbewerb kristallisiert sich in den ersten Runden das Bild heraus: Ein Großteil der Südkoreaner kopiert fremde Vorbilder, während die Deutschen mit individuelleren Ideen und Stimmen auftreten. Gerhild Romberger aus der Jury beschreibt ihre Eindrücke: „Die Männer klingen oft so alt! Sie lassen keine Obertöne zu, imitieren große Stimmen, und das geht auf Kosten der Intonation, der Flexibilität. Und leider auch auf Kosten des Musizierens, weil sie eigentlich keine Farben mehr singen können.“
Zur Wahrheit gehört aber auch: Unter den deutschen Sängern gibt es nur wenige, die ihre Technik wirklich beherrschen. Registerwechsel wackeln, Spitzentöne wirken angestrengt, der Atem fließt nicht. Bei allen Südkoreanern klappt das problemlos. Wenn zu diesen Stimmen dann doch mal spannende Interpretationen kommen, ist die Qualität beeindruckend. Sopranistin Jihyun Cecilia Lee etwa schafft es vor allem im italienischen Belcanto hervorragend, ihre kernig vibrierende Stimme als Instrument zur Emotionalisierung des Textes zu nutzen.
Vielen Südkoreanern falle ein solcher individueller Zugang zum Werk allerdings schwer, weiß Gerhild Romberger aus ihrem Unterricht an der Detmolder Musikhochschule. „Sie sagen immer ‚Ja‘, aber reflektieren nicht – zumindest merkt man davon zu wenig.“ Während die Debattenkultur in Deutschland ausgeprägt ist, gelten Lehrer in Südkorea als Autoritätspersonen. Anweisungen sind zu befolgen, nicht zu hinterfragen. Jihyun Cecilia Lee glaubt, dass es auch zu Missverständnissen kommt: „In Korea ist es so: Wenn man etwas nicht weiß, sagt man lieber nichts. Und diese Kultur macht es schwieriger in Deutschland.“

„Ein Problem ist, dass das Singen in den Schulen, Kindergärten und Familien nicht mehr passiert.“

Gerhild Romberger (Jury)

Sie beobachtet bei vielen koreanischen Studenten, dass sie aus Angst vor Fehlern der Kommunikation mit Deutschen aus dem Weg gehen und unter sich bleiben. Das verträgt sich denkbar schlecht mit der Idee, Land und Leute kennenzulernen. Sie selbst hat sich gezwungen, zu Beginn so wenig wie möglich mit anderen Koreanern Kontakt zu haben und aktiv auf Deutsche zuzugehen: „Ich war aber auch in Korea schon etwas anders“, sagt sie und lacht.

Ins Semifinale schafft es von den Südkoreanern nur die Sopranistin Pureum Jo. Aber auch von den Deutschen ist nur noch der Tenor Kai Kluge dabei. Vielleicht ein Zeichen dafür, wie selten beides zusammenkommt: kluge Interpretationen und eine gute Technik.
Die Frage ist weniger, ob nun die Qualität deutscher oder koreanischer Studierender besser ist, sondern was beide Gruppen tendenziell voneinander lernen könnten. Während sich die Koreaner recht gut über ihre Schwächen bewusst sind und hauptsächlich lernen müssen, ihre Scheu zu überwinden, wird in Deutschland die Technik der Asiaten immer wieder als „Veranlagung“ abgetan. Dabei sind die großen Stimmen das Ergebnis jahrelangen Trainings. Nicht nur an den Musikhochschulen sollen südkoreanische Studierende deutlich häufiger in den Übezellen zu finden sein als ihre deutschen Kollegen – auch im Alltag spielt Musizieren in Korea eine größere Rolle. Zu allen Anlässen wird gesungen, fast jedes Kind spielt mehrere Instrumente, Karaoke-Bars sind dauerhaft im Trend.
In Deutschland dagegen wird musikalische Bildung immer weiter ins Abseits gedrängt. Gerhild Romberger glaubt, dass viele Talente so nie entdeckt werden: „Ein Problem ist, dass das Singen in den Schulen, Kindergärten und Familien nicht mehr passiert. In meiner Kindheit war das normal: Ich bin die einzige in meiner Familie, die Musik studiert hat. Aber alle können singen!“

Deutschland hat mit 82 Millionen fast ein Drittel mehr Einwohner als Südkorea. Wenn trotz 8.542 Kilometern Luftlinie zwischen Seoul und München mehr Südkoreaner als Einheimische an einem deutschen Wettbewerb teilnehmen, sollte uns das stutzig machen. Eine Begrenzung ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen wird den Mangel an hochqualifiziertem Nachwuchs hierzulande jedenfalls nicht beheben. Auch das gehört zu den Fakten.

ARD-Musikwettbewerb 2018

Im Jahr 2018 wird der ARD-Wettbewerb zwischen dem 3. und 16. September in den Fächern Gesang, Trompete, Viola und Klaviertrio ausgetragen. Ab dem Semifinale werden alle Wettbewerbsrunden im Live-Stream und On Demand übertragen. Die Vorrunden können über Facebook im Stream verfolgt werden.
Das Finale im Fach Gesang findet am 12. September um 18 Uhr im Herkulessaal der Residenz statt. Die Finalist*innen singen Opern- und Oratorienarien aus verschiedenen Epochen, es spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Informationen zu allen Terminen und Ergebnissen des ARD-Musikwettbewerbs findet Ihr hier.

© Johanna Schlueter/BR


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