Es ist kein Geheimnis: Die Stoffe, die auf den Opernbühnen verhandelt werden, könnten eine Verjüngungskur gut vertragen. Schließlich ist die Oper an deutschsprachigen Häusern momentan im Durchschnitt 139 Jahre alt, so wurde es jüngst in einem Blog der „Neuen Musikzeitung“ (nmz) analysiert. Klar: Mozart, Puccini und Co. sind einfach Dauerbrenner und können sicher auch modern inszeniert werden. Doch es ist nicht ihre vermeintliche Zeitlosigkeit oder Allgemeingültigkeit, die sie am Leben hält, sondern die Genialität der Musik. Philosophisches Lehrstück hin oder her, die „Zauberflöte“ füllt die Säle immer noch mit ihrem Düdelüdelü aus der Vogelfänger-Arie.
Da sind die mehr oder weniger raren Uraufführungen doch eine echte Chance, sich ausnahmsweise mal mit aktuellen Themen zu befassen. José María Sánchez-Verdús Oper „Argo“, am Freitag feierte sie Premiere bei den Schwetzinger SWR Festspielen, ist auf den ersten Blick jedoch das genaue Gegenteil. Ein historischer Stoff, nicht besonders lebensnah mit einer zudem simplen Story.
Die Handlung von „Argo“
Die Argonauten schippern mit der Argo über das Meer, um das Goldene Vlies zu finden. An Bord alle, die in der Antike Rang und Namen haben: bei Sánchez Verdú insbesondere Orpheus und Odysseus. Und Butes. Den kennt heute kaum jemand, er ist der Hauptprotagonist in „Argo“. Als die Sirenen die Seefahrer mit ihrem Gesang betören, kann Butes nicht widerstehen. Er springt ins Wasser, wird aber von Aphrodite gerettet. Thatʼs it.
Doch bei aller fehlenden Aktualität des, zugegeben, recht dürftigen Plots lässt eine Aussage vom Komponisten selbst aufhorchen. Sánchez-Verdú spricht in einem Interview im Programmbuch vom Mittelmeer als einem Ort, der „bis heute Schauplatz großer menschlicher Dramen ist“. In einem anderen Interview betont er den „sozialkritischen und aktuellen Aspekt“. Sicher wäre es übertrieben, nach diesen Aussagen eine Oper zu erwarten, die sich explizit mit der Flüchtlingskrise auseinandersetzt, aber an irgendeiner Stelle müsste Sánchez-Verdú seinen Anspruch, lebensnah zu sein, schon einlösen und seinem Stück einen aktuellen Dreh verpassen.
Den sucht der Zuschauer in rund eineinhalb Stunden, die einige Längen mit sich bringen, jedoch vergebens und findet sie weder in Gerhard Falkners Libretto, das allein aufgrund der Wortwahl getrost als lebensfern betrachtet werden kann („Dein Phallus wird in meinen Hainen prangen“), noch bei der Regie (Mirella Weingarten), die sehr reduziert daherkommt, mit ihren Licht- und Schattenspielen visuell jedoch eindrücklich ist. Auch die Musik leistet hierzu keinen Beitrag. Es fehlen die großen Linien, die einzelne Fragmente erwecken kaum emotionale Reaktionen beim Zuschauer und zeichnen den Spannungsverlauf nicht nach. Den Kulminationspunkt, Butesʼ Sprung ins Wasser, nimmt man mit einem Schulterzucken hin, erst im anschließenden Monolog des Protagonisten beschleicht einen das Gefühl, dass hier gerade etwas Wichtiges passiert ist.
Schattenspiele und Doppelhörner
So verpasst Sánchez-Verdú die Gelegenheit, dem historischen Stoff eine aktuelle Deutung zu verleihen. Doch warum dann ausgerechnet dieser Stoff in neuer Auflage? Zugegeben: Die Schattenspiele, die mächtigen, rotierenden Doppelhörner als Sinnbild der Sirenenklänge, das alles macht im fremdartigen Setting des engen Rokoko-Theaters durchaus etwas her und und man hat, auch dank der Musiker und Sänger im Zuschauerraum, das Gefühl, sich tatsächlich im Bauch des Schiffes zu befinden. Am Ende aber bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass zeitgenössische Oper in dieser Form zwar ganz hübsch und irgendwie anders ist, für die großen Fragen nach der Zukunft der Oper aber keine Antworten parat hat. An der Opernszene mit ihren alten Schlachtrössern wird sich so schnell wohl kaum etwas ändern.