#klangprofil

Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

Von Jesper Klein, 01.02.2018

Hauptsache live

Immer mehr Orchester streamen ihre Konzerte im Internet, etwa das Kölner Gürzenich-Orchester. Wen die digitalen Angebote dabei erreichen, ist oft nicht klar. Denn Live-Streaming von Klassik steckt auch 2018 noch in den Kinderschuhen.

Niemand würde behaupten, dass man ein Fußballspiel nicht im Fernsehen schauen dürfe, weil es zuhause auf dem Sofa anders, nicht authentisch sei.

Keine Frage, Klassik-Streams können das Live-Erlebnis nicht ersetzen. Punkt. Knarzende Stühle, gespannte Stille zwischen den Sätzen, ein unmittelbares Klangerlebnis. All das gibt es nur im Konzertsaal, nicht im Internet. Muss es aber auch nicht. Schließlich würde ja niemand meinen, dass Urlaubsfotos den Urlaub ersetzen. Niemand würde behaupten, dass man ein Fußballspiel nicht im Fernsehen schauen dürfe, weil es zuhause auf dem Sofa anders, nicht authentisch sei. Dass Orchester vermehrt auf digitale Streaming-Inhalte setzen, ist also weder bemerkenswert noch verwunderlich. Es sollte normal sein im Jahr 2018. Dass diese Erkenntnis die Klassik-Welt mit reichlich Verspätung erreicht, mag einem konservativeren Kulturverständnis geschuldet sein, das den Schatz der Hochkultur bewahren will. Aber natürlich spricht nichts dagegen, sich eine Bruckner-Sinfonie im Live-Stream anzuschauen.

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Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

„Um mehr Menschen zu erreichen, müssen wir den Elfenbeinturm verlassen.“

Friso van Daalen, Marketing beim Gürzenich-Orchester

Nun springen immer mehr Orchester auf diesen Zug auf und bieten selbst Live-Streams ihrer Konzerte an. Beim Kölner Gürzenich-Orchester heißt die Plattform „GO Plus“. In jeder Spielzeit werden ausgewählte Konzerte kostenlos und live via YouTube übertragen. Anschließend können die Videos über die Mediathek abgerufen werden. „Um mehr Menschen zu erreichen, müssen wir den Elfenbeinturm verlassen. Es reicht nicht, Konzerte in der Philharmonie zu spielen“, sagt Friso van Daalen, verantwortlich für das Marketing des Kölner Orchesters. „Unsere digitalen Musik-Angebote sind noch sehr jung. Aber die Resonanz und die Nachfrage auch aus dem Ausland steigen stetig.“

Neue Märkte erschließen

Der Live-Stream als Türöffner für das internationale Publikum? Tatsächlich betont nicht allein das Gürzenich-Orchester, dass sich die Streaming-Inhalte in erster Linie an ein internationales Publikum richten. Auch Institutionen wie die Komische Oper Berlin oder die Berliner Philharmoniker betrachten Livestreaming vor allem als global ausgerichtete Marketingmaßnahme. Beim Marktführer des Klassik-Streamings – der sogenannten Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker – stammen lediglich 22 Prozent des Publikums aus Deutschland. Japan und die USA folgen mit 18 und 17 Prozent. Für Köln ist die Lage ähnlich: Etwa ein Drittel der Nutzer kommt aus Deutschland, auch hier folgen Japan und die USA gleichauf als zweitstärkste Regionen. „Durch unsere digitalen Musikangebote können wir die Menschen dort erreichen und das Gürzenich-Orchester international positionieren“, sagt van Daalen.

Das Kölner Gürzenich-Orchester

Das Gürzenich-Orchester ist nach seinem ehemaligen Konzertspielort, einer Festhalle in Köln, benannt und besteht seit mehr als 125 Jahren. Das Sinfonieorchester der Stadt Köln spielt in der Philharmonie und im Opernhaus. Es brachte so legendäre Werke wie Richard Strauss` „Don Quixote“ und Gustav Mahlers Fünfte zur Uraufführung. Zu den ehemaligen Gürzenich-Kapellmeistern zählen Dirigenten wie Günter Wand und Marek Janowski. Seit 2015 leitet nun François-Xavier Roth das Orchester und setzt einen Schwerpunkt dabei auch auf moderne und zeitgenössische Musik. Das Gürzenich hat inzwischen einen ungewöhnlich großen Abonnenten-Kreis, für Familien, Kinder und Jugendliche gibt es bei den „Ohrenauf!“-Konzerten ein eigenes Programm. Der künstlerische Nachwuchs wird außerdem im Rahmen einer orchestereigenen Akademie gefördert.
Die neue niusic-Themenreihe #klangprofil erkundet am Beispiel des Gürzenich-Orchesters, wie ein Orchester seine ganz eigene Identität entwickelt, wie es einzigartig wird: Welche Rolle spielt die Programmauswahl, wie geht man mit den Möglichkeiten des Online-Streamings um, welche Rolle spielt ein „Image“ durch Werbung, wie identifizieren sich die Musiker mit ihrem Orchester?

Wer im Internet eine Bruckner-Sinfonie anschaut, das weiß niemand.

Doch wer hofft, mit solchen Zahlen die Zielgruppe der Klassik-Streams näher zu ergründen, wird enttäuscht. Die Herkunft der Nutzer ist in der Regel die einzige Information, die Orchester von ihren Streaming-Usern erheben können. Und so gibt es doch einen großen Unterschied zwischen Live-Streams von klassischer Musik und Fußballübertragungen. TV-Sender kennen ihr Publikum, sie wissen, wer ein Fußballspiel verfolgt und wer es nicht tut – auch wenn die Quotenmessung online komplizierter ist. Wer im Internet eine Bruckner-Sinfonie anschaut, das weiß niemand. Ohne diese Informationen bleibt die Frage nach der Zielgruppe ein Stochern im Nebel.

Die Orchester beantworten sie meist pauschal. Selbstverständlich richte sich das Angebot an alle Interessierten. Der Platz in den Konzertsälen sei nun mal begrenzt, das Publikum dieser Musik sei wesentlich größer. Das stimmt. Es genügt der Blick auf Plattformen wie YouTube, die auch im Klassikbereich teilweise beachtliche Klickzahlen aufweisen. Wie viel von diesem Kuchen die Orchester abbekommen, ist auch eine Frage der Suchmaschinenoptimierung. Wer etwa „Orgelsinfonie“ bei YouTube sucht, erhält als ersten Treffer ein Video des Gürzenich-Orchester. Mehr als 25.000 Mal wurde es aufgerufen, es ist mit Abstand der Spitzenwert auf dem Channel des Orchesters.



Das Beispiel zeigt: Wer Gürzenich findet, muss nicht unbedingt Gürzenich gesucht haben. Das ist eine Chance für alle, die drohen, in der Masse an Angeboten unterzugehen. „Natürlich haben wir etwas zu sagen, aber wir haben unsere Streaming-Angebote nicht entwickelt, weil wir glaubten, dass da draußen jemand auf das Gürzenich-Orchester wartet“, erzählt van Daalen. „Es ist nur folgerichtig, dass man die Möglichkeiten des Internets nutzt, um die vielen Menschen zu erreichen, die dort nach Musik suchen.“

Klassik-Streaming ist auch 2018 noch Neuland. Es ist ein Feld, das die Orchester auch beackern, wenn sie nicht so genau wissen, welchen Ertrag es bringt. Klar ist: Geld verdienen lässt sich über Live-Streaming derzeit noch nicht. Erst recht nicht, wenn man wie das Gürzenich-Orchester Hemmschwellen abbaut und auf ein Bezahlmodell verzichtet, die Inhalte kostenlos über YouTube anbietet. Dass es in der Klassik-Welt einen Platz für Live-Streaming gibt, steht außer Frage, gefunden ist er noch nicht. Für die Orchester bleibt es bis dahin ein weiter und mühsamer Weg.

Der nächste Livestream

Am kommenden Dienstag, den 6. Februar, streamt das Kölner Gürzenich-Orchester um 20 Uhr das Sinfoniekonzert 6. Auf dem Programm stehen Pierre Boulezʼ „Livre“ für Streichorchester, Ludwig van Beethovens Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur und Béla Bartóks Konzert für Orchester aus dem Jahr 1943. Livestream auf YouTube

© Screenshot: http://www.guerzenich-orchester.de/livestream
© Holger Talinski


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