Von Christopher Warmuth, 31.08.2017

Jung. International. Zielorientiert.

Wenn körniges Schmirgelpapier aufeinanderreibt, knirscht es. Zwei Musiker, die beim Berliner Orchesterfestival „Young Euro Classic“ teilnehmen, haben sich auf der Treppe des Berliner Konzerthauses zusammengesetzt und den offenen Diskurs gewagt. Was trennt sie? Was verbindet sie?

Es liegt einiges zwischen den Lebensrealitäten der beiden: Achttausend Kilometer, eine Menge Wasser, zwei politische Systeme und komplett verschiedene Rahmenbedingungen für die musikalische Ausbildung. Osvaldo Enriquez Castro (Kuba) spielt im Cuban European Youth Orchestra Bratsche, Arseniy Shkaptsov (Zürich) im Baltic Sea Philharmonic Fagott. Musik ist nicht ihr Hobby, es ist ihr Beruf, vermutlich sogar ihre Berufung. Beide haben unzählige Stunden am Instrument geschuftet, touren durch die Welt, geben viel für die Musik auf. Die Orchester, zu denen sie gehören, spielen an unterschiedlichen Tagen beim „Young Euro Classic“, das Jugendorchester aus aller Welt einlädt, um klassische Musik auf Höchstniveau zu präsentieren.

Und dieser Wille gewinnt! Eine Auslastung von beinahe einhundert Prozent, strahlende Gesichter auf der Bühne, Begeisterung im Publikum: Das Festival „Young Euro Classic“ ist ein Erfolgsmodell, das einem die Sorgen nimmt, man könne mit klassischer Orchestermusik (und vor allem auch zeitgenössischer!) kein junges Publikum mehr erreichen. Seit 17. August und noch bis zum 3. September sind herausragende Jugendorchester aus der ganzen Welt im Berliner Konzerthaus: von der Baltic Sea Philharmonic über das Asian Youth Orchestra, dem Chor und dem Orchester der Elisabeth University of Music, Hiroshima bis zum Internationalen Tschaikowski Jugendorchester Jekaterinburg. Außerdem Klangkörper aus u.a. Kolumbien, Schweden, der Ukraine, aus Kuba und der Türkei. Die politischen Hintergründe disqualifizieren kein Land. Jeder ist willkommen.

Der kobaltblaue Teppich vor dem Berliner Konzerthaus ist mit goldenen Sternen übersät. Er rollt sich die Stufen hinunter, als wolle er die derzeitigen Hürden der Weltpolitik mit seiner Strahlkraft überziehen wie die Zuckerglasur eines Bonbons den sauren Kern. Während die politische Weltelite über Gegensatzpaare debattiert – Protektionismus vs. Freihandel, Traditionalismus vs. Liberalismus, Krieg vs. Koexistenz –, regiert hier ein anderer Geist. Das YEC ist die wichtigste Plattform für den Orchesternachwuchs, das Festival kümmert sich um den Erhalt vor allem der europäischen Musiktradition. Bi- und multinationale Ensembles bekommen hier eine Bühne, völkerverbindender Kontakt entsteht en passent, weil alle Teilnehmer die Liebe zur Musik eint.

Es ist keine leichte Aufgabe! Osvaldo und Arseniy blicken verdutzt auf den zusammengefalteten Zettel in Osvaldos Hand. Die Aufgabe: Er enthält ein Zitat, über das sie jeweils fünfzehn Minuten monologisieren müssen, egal ob zustimmend, negierend oder sonst wie reflektierend. Wenn der eine beginnt, hat der andere Pause, lediglich das Privileg zuzuhören ist im geschenkt. Er darf nicht intervenieren, weder mit Blicken noch mit Worten. Nachdem das erste Zeitfenster abgelaufen ist, wird getauscht. Ein Doppelmonolog über das Zitat Musik vereint und ist eine verbindende Sprache. Das Gehen während der Monologe hält den Kopf frisch und fit.

Der pädagogische Gedanke hinter diesem Setting aus dem Personalcoaching ist einleuchtend: Dem anderen zuhören, ohne zu unterbrechen, durch den Zwang der Zeit über Allgemeinplätze hinauswachsen, eine unbekannte Person während ihres Denkens kennenlernen. Anschließend setzen sich beide auf die Treppen des Konzerthauses und diskutieren frei.

Die Erwartungen an Musikschaffende sind explodiert! Dem Nachwuchs schallt das von allen Seiten von der älteren Generation entgegen. Dabei verdirbt dieser Verdruss die jungen Köpfe. Sie fühlen sich überfordert.

Es dauert drei Minuten, und Osvaldo hat bereits genug: „Wie lange noch?“. Zwölf Minuten. Er reißt die Augen auf, seine Arme samt Zitat sinken in Richtung Boden, und am liebsten würde er sich auf dem Absatz umdrehen und vermutlich lieber mit Arseniy Musik machen. Eigentlich ist das ihre Sprache – die Musik. Die Metaebene zu verbalisieren, ist nicht seine Aufgabe, und später im Dialog erläutert Osvaldo, warum das Geh-Spräch ihm so schwer gefallen ist. „Ich bin Musiker. Ich übe stundenlang. Jeden Tag. Die Zeiten haben sich derart verändert, dass ich mich zusätzlich noch um Marketingfragen, Social Media und Bürokram kümmern muss. Wir wissen alle, wie der Musikmarkt ist: Perfektion wird abgefragt.“ Osvaldo trifft ins Schwarze. Es scheint schwer möglich, sich als junger Musiker auf dem Markt durchzuboxen, mit allem Drumherum, und dann noch offen zu philosophieren. Seine Besinnung auf die Kernaufgabe von Musikern – Musik zu machen – ist für ihn notwendiger Schutz: Bitte nicht noch eine Aufgabe, die unser Berufsstand zusätzlich zur Musik erledigen muss. Die Zukunft wurde ihm zu häufig madig geredet von älteren Musikschaffenden, die vergangenheitsverliebt auf die alten Zeiten blicken, nur leider zugleich den Enthusiasmus der Jugend mit Pessimismus trüben.

Der Wille zur Professionalisierung

Auch Arseniy spürt diesen Druck, seine europäische Sozialisation schenkte ihm aber Privilegien. Das Netz der Musikhochschulen und der musikalischen Frühförderung ist in Europa dichter als in Kuba, freilich noch lange nicht perfekt. Aber zumindest das Niveau der Lehrbeauftragten ist qualifizierter, und bei einer Hochbegabung ist es um ein vielfaches leichter, gefördert zu werden. Seine Karriere hat Bilderbuch-Qualität. „Natürlich ist Musik eine verbindende Sprache. Wir haben die Noten, wir spielen sie gemeinsam und interpretieren die Musik. Durch das Erklingen wird etwas Abstraktes fassbar“, sagt er. Musik sei etwas anderes als Geld, sie sei nicht fassbar. Sobald er über das Abstrakte referiert, wird er hastiger und er treibt sich und Osvaldo an, sie laufen schneller. „Musik ist der Gegensatz zu Kriegen. Wir müssen uns zuhören, und das Schönste ist, dass Musik etwas Immaterielles ist.“

Gemeinsam haben die beiden Vieles: die Liebe zur Musik, den harten Übealltag, Tourstress, die Sonderrolle in der Gesellschaft und den Druck auf ihren Berufsstand. Der schwerwiegendste Unterschied wird beim Berliner Stelldichein deutlich, und er ist kaum auszuhalten angesichts der immensen Umwälzungen, die nötig wären, um ihn zu überwinden: Arseniy ist in einem Werteumfeld aufgewachsen, für das klassische Musik selbstverständlicher ist, auch wenn von der Musikszene hierzulande allenthalben Gegenteiliges behauptet wird. Osvaldo musste mehr kämpfen, und die Bühne für seinen Auftritt steht nicht in Kuba, sondern in Berlin. Das Cuban European Youth Orchestra lässt ihn an den europäischen Rahmenbedingungen partizipieren, damit er sich noch erfolgreicher auf seinen Beruf vorbereiten kann.

Was beide eint, ist der Wille, sich am Instrument zu professionalisieren. Beide verspüren den Drang, besser zu werden, in erfolgreichen Orchestern zu spielen und an der eigenen Karriere zu schrauben. Sie kämpfen für die gleiche Sache. „Da ist es ein Geschenk, dass wir in Berlin auf andere Kulturkreise treffen und uns außerhalb der Konzerte kennenlernen können. Musik verbindet uns. Wir haben das gleiche Ziel“, sagt Arseniy. Osvaldo nickt.




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