Von Christopher Warmuth, 18.04.2016

Quick and dirty!

Die kleine Stadt Esslingen in Baden-Württemberg beherbergt einen menschlichen Ameisenhaufen, der sich PODIUM nennt. Im achten Jahr werkeln knapp dreißig ehrenamtliche Mitzwanziger an einem der verrücktesten Klassikfestivals, das es derzeit in Deutschland gibt. Warum ist dem so?

Bei großen Festivals sind die Dienstwege zu lange und die Faxgeräte zu langsam. Das PODIUM Festival Esslingen lebt die Ängste der Kulturlandschaft.

Das Festival schöpft seinen Erfolg aus dem Team! Da sind eindeutig Spinner am Werk – vollkommen Durchgedrehte, Wahnsinnige, ja Bekloppte. Genau das ist der Nährstoff für ernstzunehmende Musikkonzepte: Menschen, die über das scheinbar Machbare hinaus fantasieren, sich nach Existentiellem verzehren und Stillstand verabscheuen. Es gibt keine Programmhefte, keine Spielstätten mit musikalischen Frontal-Vorträgen. Das Publikum muss Vertrauen in das Festival haben und einfach hingehen. Das alles funktioniert fantastisch. Ist das pure Lobhudelei eines Fans? Ja, das ist es. Zu Recht?
In Deutschland mutet man dem Klassik-Publikum mitunter zu wenig zu. Selbst der Frust innerhalb der Musikszene, den die Macher, Beteiligten, Insider permanent beanstanden, wird verheimlicht. Nach außen wird propagiert: Wir leben im kulturreichsten Ballungsgebiet der Erde. Alles gut so, wie es ist. Im Inneren herrschen Resignation, teilweise purer Selbsterhaltungstrieb. Die Macher sind selbst Gefangene der Betriebsabläufe. Bei großen Festivals sind die Dienstwege zu lange und die Faxgeräte zu langsam. Kurzum: Die Motivation wird zerquetscht vom bürokratischen Apparat. Die Macher vom PODIUM haben die Mankos des Kulturbetriebs geschnallt und dampfen ihre Strukturen auf das Minimalste ein, obwohl das Festival stetig wächst. Der Festival-Leiter des PODIUM Festivals Esslingen, Steven Walter, lebt die Ängste des Kulturbetriebes und hat sie immer im Hinterkopf.

niusic: Ihr seid im achten Jahr. Die Frage kommt also eigentlich zu spät, aber: Warum brauchen wir in Deutschland noch ein Klassik-Festival?

Steven: Es gibt genügend, aber gleichzeitig zu wenige. Selbst die, die Radikaleres schaffen sollen, tun es nicht. Da brauchte es PODIUM. Wir sehen es im Ursinn eines Festivals – wir müssen das Neue und das Wagnis schaffen. Ich will jetzt aber auch nicht auf den anderen rumhacken. Wir haben eine gewisse Luxus-Situation gegenüber den großen Festivals, die natürlich Angst haben, ihr Publikum zu vergraulen und leere Säle zu haben. Bei denen ist eine Wandlung schwer möglich. Da wir bei Null angefangen haben, konnten wir uns das Publikum suchen, das unsere Ideen liebt.

niusic: Überall, wo über das PODIUM geplaudert wird, heißt es, dass ihr hip, frech und jung seid. Ist das nicht platt?

Steven: Das ist ein ewiger Vorwurf, den wir uns selbst aufgehalst haben. Unsere Programme, Konzerte und Konzepte wurden von Beginn an kontrovers diskutiert, und dann haben wir den Hipster-Stempel aufgedrückt bekommen und ihn auch bedient. Von dieser reinen Provokation haben wir uns glücklicherweise gelöst. Unser Anspruch ist, dass die Musik im Zentrum steht.

niusic: Das hört sich sehr konventionell und austauschbar an. Welches Festival würde so etwas nicht sagen?

Steven: Der Unterschied zu den meisten anderen ist, dass wir da anfangen, wo viele aufhören. Bei uns stehen die Programme ganz am Anfang, nicht der Konzertsaal, das Booking oder ähnliches. Dann kommt die Wahl der Spielstätten – es gibt ja auch klassische Musik, die besser im Club aufgehoben ist. Muss man bei der Musik herumlaufen? Muss man tanzen? Das körperliche Erlebnis der Musik ist uns wichtig. Dann überlegen wir, welche Musik welchen Rahmen braucht. Für mich beginnt ein Konzert nicht beim ersten Ton, sondern beim Frühstück am selben Morgen. Das kann ich natürlich nicht beeinflussen, aber für uns beginnt das Konzert dann beim Karten-Abreißen. Wir durchdenken den ganzen Prozess immer neu.



niusic: Habt ihr nicht nur einfach Glück, dass der restliche Kulturbetrieb so langweilig ist und eure Ideen auffallen?

Steven: Das ist lustig. Wir profitieren davon, dass das, was in anderen Kulturformen schon zwanzig Jahre etabliert ist, bei der Klassischen Musik trotzdem noch innovativ ist. Aber es lebt ja bei uns nicht alles nur über die Konzepte. Wir haben vor allem tolle junge Musiker, die Bock haben, hier zu spielen und das im Übrigen für viel zu wenig Geld. Sie machen das trotzdem, weil das ein Highlight in ihrem Kalender ist. Und auch da haben wir eine Nische gefunden. Also ich spreche beim PODIUM ja von zwei Märkten: Auf der einen Seite haben wir das Publikum und auf der anderen Seite haben wir die Musiker. Wir haben bei beiden eine Lücke gefunden. Viele Musiker haben schlicht auch keine Lust, Dienst nach Vorschrift zu absolvieren und Gängeleien im normalen Betrieb in ihrer freien Zeit auszuhalten. Das Lustprinzip ist, glaube ich, hinter allem das Entscheidende. Wir wollen eine hermetische Denkweise vermeiden.

niusic: Denken Deutschlands Kultur-Köpfe normalerweise abgeschlossen?

Steven: Ja. Aber das meine ich nicht böse, denn natürlicherweise ist der Kulturbetrieb so.

niusic: Hast du deshalb das Festival gegründet?

Steven: Am Anfang war das ein studentischer Impuls, weil wir Programme machen wollten, die wir so nicht gehört haben. Und die waren auch nicht so einfach zu verkaufen. Wir wollen genau die Dinge machen, die andere nicht machen können wegen der strukturellen Probleme. Was wir sind: eine Experimentier-Plattform.

niusic: Experimente gehen auch oft schief ...

Steven: Klar gehen da auch Dinge schief. Das kann auch toll sein, weil ohne Scheitern gibt es ja nichts Neues.

niusic: Was ist dieses Jahr neu?

Steven: Dieses Jahr gibt es eine größere Dichte an szenischen Projekten. Wir haben „Szenen der Frühe“, eine Kooperation mit dem Heidelberger Frühling. Es ist ein multimediales Projekt über das Leben von Robert Schumann. Dann haben wir „Disco Disco“, was auch ein szenisches Projekt ist, und ein Hörspiel mit dem Bayerischen Rundfunk.

niusic: Vier Kooperationen – Bundesjugendballet, Lucerne Festival, Heidelberger Frühling, BR-Klassik. Nagt der bürokratische Apparat schon an eurer Kunst?

Steven: Wir passen gerade die Strukturen an, damit das nicht passiert. Eine Kooperation, wie die mit dem Heidelberger Frühling ist eine Herausforderung. Wir arbeiten nach dem „quick und dirty“-Prinzip, das geht mit einem so großen Festival nicht. Wir müssen da andere Produktionsbedingungen herstellen. Ich glaube, das ist eines der großen Probleme im Klassischen Musikbetrieb, dass jetzt schon die Programme, die in drei Jahren gespielt werden, feststehen. Das ist doch absurd! Zum Beispiel beim Eröffnungsabend haben wir kurz vorher noch gröbere Dinge verändert, weil wir im Setting gemerkt haben, dass es anders einfach schöner ist.

niusic: Dadurch könnt ihr aber nicht vorher sagen, was genau kommt. Das Publikum hat ja eine Erwartungshaltung …

Steven: Da würde ich dir widersprechen. Unser Publikum hat keine konkreten Erwartungen, weil sie unser Festival kennen. Und ganz ehrlich – wenn Leute Kunst vorab haptischer brauchen, dann gibt es ja andere Festivals.

Szenen der Frühe

Szenen der Frühe ist ein musikalisch-szenisches Projekt für Sänger, Tänzer und Musiker, das gängige Erwartungen an ein Konzert – oder an das Musiktheater – weit hinter sich lässt. Alle theatralen, tänzerischen und multimedialen Mittel verschränken sich und behandeln die Existenz der Person Robert Schumann und seine Psyche.

niusic: Ihr macht dieses Jahr ein Schumann-Porträt ...

Steven: Robert Schumann war ja schon fast wahnsinnig. Im Kern geht es um psychische Gesundheit. Das klingt jetzt esoterisch, aber ich will, dass das jeder durch seine Persönlichkeit – durch seine eigene Folie – diffundieren lässt und erspürt, was das mit ihm macht. Es soll da etwas zusammen klingen, da muss eine Resonanz entstehen mit einer fast schon spirituellen Realität.

niusic: Kunstreligion?

Steven: Ich bin ein säkularer Mensch, aber ich hatte in der Jugend Erweckungs-Momente durch Kunst. „Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein“. Und da finde ich bedauerlich, dass das Konzert als Erlebnis-Plattform zahm geworden ist. Ich will rausgerissen werden, damit Aura entsteht. Aura ist doch das Krasseste, was es gibt! Gerade in unserer Zeit habe ich auf meinem Smartphone alles drauf – Apps, Messages, Streaming-Dienste. Im Konzert will ich überrascht werden.

niusic: Musik also als Provokateur?

Steven: Ich will, dass mir Musik zeigt, wo meine Sicherheiten aufhören und wo ich etwas Neues erleben kann. Musikmanager sind dafür da, dass sie für das Publikum kuratieren, die schönsten, besten, geilsten Dinge finden und sie spannend miteinander verbinden.

niusic: Was ist, wenn dir jemand jetzt 50 Millionen im Jahr in die Hand drücken würde – also ein Hundertfaches von deinem Etat. Wäre PODIUM noch PODIUM?

Steven: Durch unsere ehrenamtliche Tätigkeit selektieren sich Dinge. Das Team brennt zu 100% für die Sache. Geld ist absolut nicht die Lösung für vieles, aber man muss so viel davon haben, dass man etwas Tragfähiges aufbauen kann. Und falls das tatsächlich passiert, hoffe ich, dass wir uns treu bleiben können. Ich bin ein Fan von kleinen Einheiten, weil eine Vergrößerung von einem Festival immer auch Verlangsamung bedeutet.

niusic: Hast du davor Angst?

Steven: Ein bisschen ja. Das ist natürlich die ganz große Frage: Wie sieht die Kulturinstitution der Zukunft aus? Ich glaube nicht – so sehr ich es auch hoffe –, dass wir die deutsche Struktur der öffentlichen Finanzierung so erhalten können. Ich glaube, Kulturinstitutionen müssen sich radikal ändern.

niusic: Opernhäuser in die Luft sprengen?

Steven: Nein, aber viele wiederholen sich redundant. So etwas darf man eigentlich nicht sagen, weil ich da am eigenen Ast sägen würde. Aber ich finde, dass man Häuser zusperren müsste, wenn sie nichts bringen! Als Disclaimer sage ich aber auch, dass das ganz toll ist, was es da alles gibt. Natürlich ist ein Opernhaus besser als kein Opernhaus. Man könnte da eher in die freie Szene investieren.

niusic: Wie sieht es bei euch in Zukunft aus?

Steven: Wir wollen nicht mehr wachsen. Ganz einfach. Es gibt hinter allem eine gewisse Wachstums-Logik. Man muss anscheinend immer größer, weiter … Da muss man sich extrem gegen wehren. Also in Esslingen soll die Größe beibehalten werden, aber diese Übertragung in die kleinen Festival-Satelliten, die kann weiter gehen. Dadurch weitet man das Initiativen-Netz aus und macht durch viele kleine Dinge das große Ganze besser.

PODIUM Highlights 2016

Szenen der Frühe

Montag, 18. April, 20 Uhr
Württembergische Landesbühne (Esslingen)


Confusion

Donnerstag, 21. April, 22 Uhr
Jazzkeller (Esslingen)


Lieder vom nahen Osten und fernen Westen

Freitag, 22. April, 20 Uhr
Stadtkirche St. Dionys (Esslingen)


komplettes Programm

© studio visuell photography, Heidelberger Frühling
© Leo Higi, PODIUM Festival Esslingen


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