Die Musik nimmt Gestalt an, die Melodien fließen, die Holzbläser brauchen noch Anschub: „In Germany we would say, it´s ‚Morsealphabet‘ what you are doing here. More pa-da-ta-da.“ Die heisere Stimme des Dirigenten Heiner Buhlmann tönt durch den Raum. Ab und an steht der Konzertmeister auf und übersetzt ins Arabische. Ansonsten sieht alles ganz gewöhnlich aus, außer den dicken Fernsehkameras zwischen den Musikern und der bemüht unauffälligen Presse, die zwischen den Stühlen herum schleicht. Das Arab Youth Philharmonic Orchestra, kurz AYPO (gesprochen „Eipo“) probt erst seit ein paar Tagen in Berlin. Um sich auf ihr Konzert bei „Young Euro Classic“ vorzubereiten, haben die Musiker knapp eine Woche Zeit. Mehr nicht. Aber das werden sie schaffen, „wenn das Engagement so bleibt wie heute“, sagt der Dirigent. Nach vier Stunden Probe, es ist die erste des Tages, üben die Violinen unter Eigenregie weiter, um problematische Stellen auszubügeln.
Jubiläum!
Seit zehn Jahren trifft sich das Arab Youth Philharmonic Orchestra (AYPO) fast jährlich für eine Arbeitsphase von ein bis zwei Wochen. In seiner diesjährigen, der achten Ausgabe setzt sich das AYPO aus 65 Musikern aus acht unterschiedlichen Herkunftsländern zusammen: Ägypten, Algerien, Syrien, Tunesien, Irak, Kuwait, Vereinigte Arabische Emirate und Palästinensische Gebiete. Erklärte Ziele des Orchesters sind die Förderung junger Talente und die Stärkung des internationalen Dialogs. Die Reisen führten es bereits nach Deutschland, zuletzt auch zu „Young Euro Classic“ 2013.
Selbsternannte Kulturbotschafter
Dr. Fawzy El-Shamy hat das Orchester gegründet. Der ehemalige Dekan des Konservatoriums in Kairo versammelt dafür die besten Nachwuchsmusiker aus dem arabischen Raum. Nach zehnjährigem Bestehen habe das Orchester-Projekt knapp 5000 Musiker zusammengebracht, erzählt El-Shamy oder „Dr. Fawzy“ wie ihn viele seiner Schützlinge nennen. Einige von ihnen spielen heute weltweit in großen Orchestern. Der ehemalige AYPO-Konzertmeister Karim Saleh zum Beispiel sitzt nach seiner Zeit in der Akademie der Berliner Philharmoniker jetzt in den ersten Violinen der Konzerthausorchesters. „Die Musiker arbeiten irgendwo in Europa oder in den arabischen Ländern, aber ihre erste Erfahrung war bei uns im AYPO.“ Genau wie die der Brüder Raed und Jehad Jazbeh, die das Syrian Expat Philharmonic Orchestra in Bremen gegründet haben. Nach ihrem letzten Besuch bei „Young Euro Classic“ sind sie in Deutschland geblieben. Dieses Jahr hatten nur zwei Syrer das Glück, ein Visum zu bekommen.
Fawzy El-Shamy
Es war nie einfach, das Orchester zu versammeln. Die erste AYPO-Arbeitsphase fand in Damaskus statt, etwa 100 Kilometer von Beirut entfernt, das zu der Zeit unter Bombardement stand. „Alle Musiker hatten versprochen zu kommen und sind es auch, weil es ihnen so wichtig war.“, erzählt El-Shami nicht ohne Stolz. Für die Anreise müssen sie in der Regel selbst aufkommen, das Orchester hat keinen besonderen Träger. Manchmal werden die Spieler vom Kultusministerium ihres Landes gefördert. Vor Ort sind sie dann auf lokale Sponsoren angewiesen, in Berlin kommt das Festival für sie auf.
El-Shamy hat eine klare Vision: „Wir möchten das Projekt der Welt vorstellen und zeigen, dass wir für alle Kulturen offen sind. Und wir möchten auch zeigen, dass wir miteinander in Toleranz leben. Im Orchester sitzen Muslime neben Christen, mit und ohne Kopftuch.“ In den Herkunftsländern genießt das Orchester aber nicht das Interesse, das ihnen in Deutschland entgegengebracht wird. Obwohl die Idee und ein großer Teil der Musiker aus Ägypten kommen, steht ein Gastspiel in der Heimat noch in den Sternen. Dabei gibt es in Kairo ein Opernhaus, ein etabliertes Orchester und ein Publikum für klassische Musik.
Mehr als Politik
Viele Musiker des Orchesters sind klassisch ausgebildet – und mit klassisch meinen auch sie die europäische Klassik. Die Cellistin Marwa gehört mit 20 Jahren zu den Jüngeren, aber im AYPO spielt sie bereits zum vierten Mal. Über das Orchester meint sie: „Die Hauptmessage dieses Orchesters ist Frieden, Toleranz und Verständnis. Und ich glaube, das ist es, worum es bei Musik grundsätzlich geht. Viele Menschen sind sich der Wirkung von Musik nicht bewusst.“ Marwa ist eigentlich Ägypterin, lebt aber seit zehn Jahren in Dubai, wo sie Architektur studiert. In Ägypten absolviert sie nebenbei ihre musikalische Ausbildung, weil es in Dubai kein Konservatorium oder Ähnliches gibt. Dazwischen sind 3.000 Kilometer. „Bei uns ist es normal, dass man neben der Musik noch etwas anderes macht, weil klassische Musik noch nicht so etabliert ist wie in Europa. Eine Karriere in der Musik allein ist eher ungewöhnlich. Aber ich sehe mich in Zukunft auf jeden Fall in den Künsten, vielleicht als Professorin für Kunstgeschichte, aber auf jeden Fall auch als Cellistin.“
Das Interesse für eine in ihrem Raum eigentlich fremde Kultur eint die Musiker, erzählt Marwa:. „In der Cello-Sektion sind wir Ägypter, Tunesier, Algerier. Wenn wir uns hinsetzen und Musik machen, sind wir wie eine Familie. Ich glaube, viele Menschen sind sich nicht dessen bewusst, wie nah wir einander sind, wenn wir in dieses Orchester kommen. Wir wissen nicht einmal, wer welcher Religion angehört, darüber haben wir nicht geredet.“
Wo gehst du hin, wo kommst du her?
Die Werke haben sie zu Hause alleine einstudiert, jetzt muss der Dirigent die vielen Vorstellungen in einer Interpretation zusammenbringen – in seiner. Der Bremer Dirigent hatte bereits früher mit dem Orchester gearbeitet und wurde für die Arbeitsphase in Berlin vom Orchester ausgewählt. „Sie sollen mit dem Herzen spielen und nicht mit dem Bogen. Und das verstehen sie auch“
Heiner Buhlmann
Für Heiner Buhlmann ist die zweite Sinfonie von Johannes Brahms ein Werk, das er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. „Es ist Freude pur und letztendlich ist das ja ein Grund, warum all die Musiker hier sind.“ Anders ist da das Stück „Sacrifice“ des jungen ägyptischen Komponisten Amir Khalaf. Ein Werk sinnbildlich für die Flucht und die Vertreibung, die auf Krieg und Terror folgen.
Der Komponist wollte bei den Proben dabei sein, aber aus familiären Gründen blieb er in der Heimat, nicht ohne den Musikern aus Ägypten einige Anmerkungen für das Orchester mitzugeben. Das Werk von Ali Osman sei dagegen voller Spielereien, orientalischer Rhythmen und Melodien, die Buhlmann vor Herausforderungen stellen: „Bei dem Stück von Ali Osman lasse ich mich gern von den Musikern von vorne bis hinten belehren. Aber beim Brahms lasse ich mir nichts erzählen.“
Das AYPO spielt am 30. September um 20 Uhr im Konzerthaus Berlin. Neben der Sinfonie Nr. 2 D-Dur op.73, „Fusion“ von Ali Osman und „Sacrifice“ von Amir Khalaf runden zwei Arien aus der Oper Carmen, „Habanera“ und „Seguidilla“, sowie „Mon cœur s’ouvre à ta voix“ aus der Oper „Samson et Delilah“ von Camille Saint-Saëns das Programm ab. Dafür konnte das Orchester die ägyptische Mezzo-Sopranistin Gala El Hadidi gewinnen, die seit 2010 zum Ensemble der Dresdner Semperoper gehört. Restkarten gibt es noch hier.
Das Konzert überträgt Arte Concert im Livestream.
Mehr Infos unter: http://www.young-euro-classic.de. niusic hat auch mit der Leiterin des Festivals, Gabriele Minz gesprochen, u.a. über multinationale Orchesterprojekte wie das Arab Youth Philharmonic Orchestra: Interview mit Gabriele Minz.
© Kai Bienert | MUTESOUVENIR