Das „Andante funebre e doloroso ma con moto“ tut tatsächlich weh. Lange, schmerzerfüllte Akkorde, Dissonanzen, die sich hinter schönen Melodien versteckt halten, stechen direkt in die Brust. Dann: eine orthodoxe Totenmesse. Die zweite Geige rezitiert die Bibelverse wie ein russischer Pope, während die anderen drei im Chor antworten. Einige Takte später kommt aber doch die Schwanensee-Reminiszenz. Denn es geht um Tschaikowski.„Wir dachten uns: Tschaikowski ist nicht unbedingt für seine Kammermusik für Streicher bekannt. Die Stücke sind so schön, also warum werden sie nicht gespielt? Das sollten wir doch machen“, erklärt der Bratschist Gary Pomeroy.
Im Hintergrund hört man ein Baby laut schreien. „Er hat heute das erste Mal gelächelt“, erzählt Oliver Heath mit leichtem Stolz und müder Stimme. „Und ich habe mir einfach die Augen aus dem Kopf geweint, ich konnte nicht mehr.“ Sein Kollege Gary ist der Patenonkel. „In der klassischen Szene sind wir sehr jung, Babys“, erklärt er. „Babys mit Babys“ berichtigt Oliver.
Harte Arbeit und ein bisschen Glück
Trotz der etwas manierierten Art, die britischem Englisch stets anhaftet, wirken die zwei Mitglieder des Heath Quartet so bodenständig wie auf ihren Pressebildern. Wir telefonieren über Skype, das Mittel der Wahl bei Ferngesprächen auch mit Freunden und Verwandten, vielleicht verstärkt es dieses Gefühl des Vertrauten. Die Heaths sprechen über ihre Arbeit, als würden sie ein komplexes Familienunternehmen leiten, erklären mir ihre Strategien, ihre Prinzipien. Es geht um Zeitmanagement und ein möglichst gesundes Wachstum. Dabei arbeiten sie 25 Tage im Monat, immer im Quartett, immer zu viert. Und an den restlichen Tagen geben sie offenbar Interviews. „Wir mussten viel opfern zu Beginn unserer Zusammenarbeit, haben viel unbezahlt oder schlecht bezahlt gespielt, aber auch viele Kooperationen und Kontakte aufbauen können“, erläutert Oliver. Nach ihm, dem ersten Violinisten, ist das Heath Quartet auch benannt, so wie die Tradition es verlangt – und der Lehrer, der ihn, Gary und den Cellisten Chris in die Kunst des Streichquartetts eingeführt hat. Als Koryphäe am Royal Northern College of Music hatte Christopher Rowland, selbst einst bekannter Quartett-Primus, sie zum ersten Mal als Gruppe zusammengebracht. Nach dem Studium kam dann die zweite Violinistin Cerys dazu. Eine Geschichte von vielen glücklichen Fügungen, aber auch von etwa 15 Jahren Arbeit am Zusammenspiel, am Repertoire, an Details, an sich selbst.
Die Musiker sind heute Mitte 30 und ihr Repertoire ist ein Kompromiss daraus, „was wir machen wollen und was von uns gefragt wird“, sagt Oliver. Im besten Fall decke sich das, wie bei den Aufnahmen der selten gespielten Streichquartette des britischen Komponisten Michael Tippett. Die hatten sie zunächst für ein Festival einstudiert. Dieses Jahr gewannen sie dann mit den Live-Aufnahmen den Gramophone Chamber Music Award, einen der wichtigsten Preise in Großbritannien und der Klassiklandschaft weltweit.
Auf der neuen Platte rücken sie mit den Streichquartetten von Tschaikowski wieder in die Mitte des Repertoires, aber nicht zu weit. „Es gibt so viele brillante Quartette und so viele Aufnahmen von den großen Jahrhundert-Komponisten, und es ist schwierig, sowas in unserem Stadium der Karriere zu rechtfertigen. Wir brauchten etwas, wo noch Platz für eine neue Aufnahme war“, erläutert Oliver die Entscheidung. Gary geht ins Detail: „Das dritte Quartett ist unglaublich dicht, mächtig und düster, sehr düster. Und das erste Quartett ist wir eine Ballerina, die ihre Pirouetten dreht, so schwärmerisch und leicht in ihrem Charakter. Und es klingt nicht, als hätte es die selbe Person geschrieben.“ Bei den Aufnahmen der Heaths klingt es dagegen so, als hätte es nur eine Person gespielt, dabei stecken dahinter vier gleichberechtigte Köpfe.
Oliver Heath (1.Vl), Cerys Jones (2.Vl), Gary Pomeroy (Br) und Christopher Murray (Vc) bildeten bis November 2016 das Heath Quartet. Die Besetzung wird sich allerdings in den nächsten Monaten ändern, da Cerys Jones das Quartett im November aus familiären Gründen verlässt. Seit 2002 arbeitet sich das Ensemble durch die Konzertsäle und die Preislandschaft Großbritanniens. In Deutschland sind die Musiker regelmäßige Gäste renommierter Festivals wie der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, deren Ensemblepreis sie 2012 gewonnen haben. Neben ihren Bühnenaktivitäten unterrichten sie an der Guildhall School of Music and Drama und beteiligen sich an zahlreichen Education-Projekten in Großbritannien und den USA.
Demokratie in der Musik
In der klassischen Musik ist Diktatur die Regel, meistens gibt es ein Machtgefälle zwischen Dirigent und Orchester, zwischen Komponist und Interpret. Das Quartett ist eine Ausnahme. Alle seien in der gleichen Verantwortung, vor allem möglichst offen und flexibel zu sein, unterstreicht Gary. Oliver bringt es auf den Punkt: „Das Wichtige ist, dass wir uns selbst genug Zeit geben, den Probenprozess mit einem Bewusstsein für Demokratie anzugehen, so dass jeder genug Zeit hat, seine Ideen einzubringen. Im Prinzip spielen wir Tennis – ok, wir versuchen das, vielleicht klappt´s nicht, dann probieren wir das aus, zuerst deine Idee, dann seine, dann meine. Am Ende haben wir eine Interpretation, aber es muss nicht die ultimative Version sein. Die Hauptsache ist, dass jeder seinen Einfluss darin wiedererkennt.“
Die Frage danach, wie sie das, was sie ausmacht, in einigen Worten beschreiben können, bringt sie ins Grübeln. „Spaß und die Kommunikation, wenn wir spielen“, meint schließlich Oliver. Gary setzt einen drauf: „Energie und Abwechslungsreichtum.“ Es sind Begriffe, hinter denen sich viel verbergen kann, aber ihre Definition von Erfolg ist ziemlich genau: „Es ist wichtig, hungrig zu sein, um unsere Fähigkeiten als Gruppe oder unsere Interpretation, unsere Möglichkeiten auf der Bühne zu entwickeln. Aber es ist sehr leicht, in die Falle zu tappen und zu glauben, dass es einem so gut geht, wie es der Terminkalender zeigt. Wir sind nicht in diesem Sinne ambitioniert. Wir glauben daran, dass wir belohnt werden, wenn wir gut spielen. Wir sind glücklich in der Position, in der wir sind, dass wir Zugang zu so viel Repertoire haben und dass wir es so formen können, wie wir wollen. Und so lange wir dazu in der Lage sind, wird das Quartett weiterbestehen. So einfach ist das.“
Das Heath Quartet ist regelmäßiger Gast der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Auch im nächsten Jahr gestalten die vier Musiker das Festival im März in acht Konzerten mit. In Berlin kann man sie am 18. Mai im Konzerthaus erleben. Mehr Infos unter www.heathquartet.com.