Von Sophie Emilie Beha, 20.12.2018

Musik auf der Couch

1910 macht Gustav Mahler eine Tagesreise, um vier Stunden lang mit Sigmund Freud spazieren zu gehen. Heute analysieren Psychologen Richard Wagner oder Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Untersuchung.

Es ist wohl der berühmteste Spaziergang zweier Genies in der Musikgeschichte. Am Rande der Kleinstadt Leiden in Holland, nicht weit von der Nordsee entfernt. Sigmund Freud spaziert neben Gustav Mahler, er raucht, hört zu, stellt Fragen, während Mahler ihm seine Lebensgeschichte erzählt. Ausgelöst wird dieser vierstündige Spaziergang durch die Affäre von Mahlers Frau Alma mit dem Bauhaus-Gründer Walter Gropius. Nachdem Mahler und Freud an Universität, Burg und Botanischem Garten vorbeiflaniert sind, diagnostiziert Freud einen Mutter-Komplex. Mahler sei regelrecht besessen von seiner Mutter Marie, deshalb leidet er wie sie unter Angstzuständen und ahmt ihren hinkenden Gang nach, meint Freud. Außerdem hat er eine Frau mit gleichem Namen gewählt, Alma Maria, und sein Tochter Maria Anna getauft. Verursacht würde dieser Komplex durch Mahlers traumatische Kindheitserfahrungen, in denen er oft rohe Gewalt seines Vaters erlebte.

„Mahler hat in jeder Frau den Typus seiner Mutter gesucht.
Sie war vergrämt und leidend, und dies wollte er unterbewusst auch von seiner Frau.“

Sigmund Freud

Sigmund Freud war von seiner eigenen Diagnose so fasziniert, dass er Mahlers Komplex „Marienkomplex“ taufte. Und tatsächlich sah sich Mahler nach diesem Spaziergang geheilt: Die Beziehung zu Alma besserte sich, Mahler veröffentlichte erstmals ihre Kompositionen und widmete ihr seine achte Sinfonie. Die Faszination und das Interesse der Psychologie für Komponisten haben sich seit Freud erhalten. Es existiert sogar eine Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik. Sie wurde 2011 von dem Psychologen und Freud-Jünger Sebastian Leikert gegründet, besitzt 120 Mitglieder und veranstaltet Symposien, in denen die Wirkungsweise der Musik erforscht und das „tiefere Verstehen“ von Werken oder Epochen gefördert werden. Daneben hat Leikert Texte verfasst. Über „Das Objekt des Genießens in der Musik“, Improvisation und über den ersten Teil des „Wohltemperierten Klaviers“ von Johann Sebastian Bach.

Leikert hat ihm zwar den Ödipuskomplex diagnostiziert, aber Bach rettet sich selbst.

Leikert interpretiert dieses Werk als eine „Entfesselung des musikalischen Universums“: Da Bach als Neunjähriger zum Vollwaisen wird, zieht ihn sein Bruder auf, der aber nicht den Vater ersetzen kann. Leikert schlussfolgert, dass der Knabe nun versucht, diesen Mangel an väterlicher Autorität durch ein intensives Musikstudium auszugleichen und deshalb den Namen seines Vaters in der Tonfolge „B.A.C.H.“ in den Präludien und Fugen im „Wohltemperierten Klavier“ vertont. Leikert hat ihm zwar den Ödipuskomplex diagnostiziert, aber Bach rettet sich selbst. Laut Leikert vertont er deshalb nicht nur den Namen seines Vaters, sondern auch den eigenen. Der Komponist wird sich seiner Autonomie bewusst. Und obwohl Bach neben viele seiner Partituren die Abkürzungen J. J. („Jesu Juva“ – „Jesus hilft“) und S. D. G. („Soli Deo Gratia“ – „Gott allein die Ehre“) gesetzt hat, geht Leikert noch einen Schritt weiter: „Alles verweist auf den Platz des Herren, der diesmal jedoch nicht als der Platz des Anderen, als Platz Gottes verstanden wird, sondern als ein Platz, den das Subjekt selbst beansprucht."



In anderen Texten diagnostiziert Diplom-Psychologe Bernd Oberhoff den Ödipuskomplex an Mozart (Beispiel „Idomeneo“) und an Wagner den „Anti-Ödipus“ (Beispiel „Der Ring des Nibelungen“). Wie ernst sind solche Diagnosen? Kann man die Psyche eines Künstlers anhand seiner Werke analysieren und ihn dann mit einem medizinischen Label versehen? Es gibt unzählige Gedichtinterpretationen, aber keine rückwirkende psychologische Ferndiagnose über Goethe oder Schiller. Johannes Brahms meinte einmal, dass jede Inspiration zum Komponieren aus einem Raum käme, „den heutige Psychologen das Unterbewusste nennen“. Hier ist die Schnittmenge. Das Unterbewusstsein ist der Nährboden für die Psychoanalyse und teilweise auch für die Wirkung von Musik. Für Oberhoff ist die Beschäftigung mit Musik deshalb fundiert, aber die Diagnosen stützen sich oft auf Spekulationen und hypothetische Konstrukte. Es mag sein, dass die Psychoanalyse kranken Menschen hilft, aber es ist fraglich, ob sie ohne Zeitreise ein treffendes Bild verstorbener Persönlichkeiten zeichnen kann.



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