Eine Pressekonferenz in Paris und London für eine neue CD? Ungewöhnlicher Aufwand, der für die neue Aufnahme der „Trojaner“ von Hector Berlioz betrieben wird. Viele meinen, hier schon die neue Referenzaufnahme dieser Oper entdeckt zu haben. Dirigent John Nelson dagegen ist kein Star der Branche, eher einer dieser spezialisierten Experten. Im Interview in London wirkt der Mann aber offen und wenig fachsimpelnd, eher entspannt. Es wird klar: Für diesen Künstler ist mit der Aufnahme ein Traum in Erfüllung gegangen.
niusic: Herr Nelson, Sie sagen, dass „Die Trojaner“ die größte französische Oper sind. Eine mutige Aussage ...
John Nelson: ... die ich wirklich glaube. Ist natürlich subjektiv und mutig, sowas zu sagen. Zumal ich beispielsweise „Pelléas et Mélisande“ nie dirigiert habe. Aber ich habe Erfahrung mit Bizet und Massenet. Also von den Opern, die ich im französischen Repertoire kenne, ist „Les Troyens“ die größte, die mit der wichtigsten Story, und es braucht 18 Sänger, um sie gut aufzuführen. Das ist die Qualität der Komposition. Ich kenne sie mittlerweile in- und auswendig.
niusic: Warum sind Sie gerade Experte für diese Oper geworden? Wie passiert sowas?
Nelson: Ich hatte gerade die Juilliard School in New York abgeschlossen. Ein Freund von mir, Sängermanager Matthew Epstein, sagte: Du musst jetzt etwas machen, das dich in der Musikwelt bekannt macht. Nun, ich war jung, und niemand kannte mich! Er sagte, hol dir die neue Bärenreiter-Edition von „Les Troyens“. Ich wusste da noch nicht mal, wer Berlioz war. Ich besorgte die Noten, hörte die Colin Davis-Aufnahme und war sofort wie weggeblasen von diesem Stück.
niusic: Und wie hat sich über die Jahre Ihre Sicht darauf geändert?
Nelson: Wenn ich jetzt meine erste Aufnahme von 1972 höre, ist es mir peinlich. Insofern habe ich mich wohl weiterentwickelt. Damals haben mich trotzdem alle gelobt, wohl weil niemand das Stück kannte (lacht).
niusic: Heute ist das Stück bekannter, wird aber oft noch geteilt aufgeführt. Für mich sind es auch zwei Geschichten ohne viele Verbindungen, und dann sind da noch andere dramaturgische Schwächen ...
Nelson: Viele Leute würden Ihnen zustimmen, dass da Schwächen sind. Ich bin so ein Enthusiast, so vertraut mit Berlioz` Sprache, ich sehe da keine Schwächen mehr. Für mich ist auch das aus einem Guss. Die Reise von Aeneas nach Rom ist der Schlüssel, der alles verbindet. Die Oper darf nicht geteilt werden, das hat Berlioz zu Lebzeiten schon belastet, selbst eine Aufführung an zwei Abenden finde ich schlecht. Es geht hier um ein Drama. Zwei starke Frauen, Dido und Kassandra, sind die heimlichen Hauptrollen, so unterschiedlich und so vereint in ihrem tödlichen Schicksal.
niusic: Stichwort „Starke Frauen“: Ihr Kollege Mariss Jansons ist nicht begeistert von dirigierenden Kolleginnen ...
Nelson: Ach, sehen Sie die erfolgreiche Angela Merkel. Und Hillary Clinton, die bei mir in der Heimat gewonnen hätte, wenn das Wahlsystem nicht so furchtbar wäre. Unsere Welt verändert sich mit jedem Tag in Richtung Geschlechtergleichheit. Starke Autorinnen, starke Komponistinnen. Ich verstehe Jansons Meinung hier nicht und würde ihm stark widersprechen. Das Denken ist veraltet ...
niusic: ... genauso wie die Geschichte der Trojaner historisch ist. Funktioniert da Modernisierung?
Nelson: Ich hatte eine Produktion in Stuttgart. Da war Dido zufälligerweise ... Angela Merkel! Es war so peinlich. Das war Regietheater par excellence, und es hat nicht funktioniert. Viele Opernstoffe haben die Anlage, gut in die Moderne übersetzt zu werden. „Les Troyens“ ist ein historisches Stück. Es sollte meiner Meinung nach auch immer in dieser Zeit inszeniert werden.
niusic: Jetzt legen sie eine konzertante Aufnahme des Stückes vor, also gibt es gar keine Inszenierung. Und das bei einer Grand Opéra, die doch gerade auch davon lebt, vom Setting, von der Bühne ...
Nelson: Es hängt alles an der Qualität der Musik. Auch bei Opern ist die Musik das, was mich allein erfüllt. Da würden Kollegen mit mir streiten. Bei unserer Aufnahme kann die Imagination frei sei. Das, was die Musik macht, kann kein Set schaffen. Die Leute können das in ihrem Kopf sehen, was sie wollen. Für mich ist das der beste Weg!
niusic: Die Kritiker sind begeistert, geben bisher alle fünf Sterne, sprechen von einer Referenzaufnahme ...
Nelson: Wir freuen uns sehr! Aber ich wundere mich gar nicht besonders, ehrlich gesagt: Nehmen sie Joyce DiDonato, die Dido singt: In 50 Jahren habe ich nie jemanden wie sie erlebt. Ihre Stimme, ihre Intelligenz, ihr Spiel, ihre sozialen Fähigkeiten. Sie geht jedes Jahr zu Schwerverbrechern in den Knast und arbeitet eine Woche mit ihnen. Sie ist niemand, der in der kleinen Opernwelt feststeckt. Wenn so jemand das Ensemble anführt, steckt das alle an.
niusic: Sie haben also offenbar alle Beteiligten von der Schönheit dieses Werks überzeugt?
Nelson:Ja, das ist wirklich nicht immer so. Wir hatten drei Wochen, um die Konzerte vorzubereiten, und wir waren drei Wochen im Himmel. Alle waren freudig erregt, der Gesang war grandios. Das erste Mal, dass nichts Negatives zu keinem Zeitpunkt in der Luft war.
niusic: Fehlerfrei?
Nelson: Hm, natürlich haben wir für die Aufnahme an einem Tag nach den Aufführungen noch Fehler ausgebessert.
niusic: Der Chor ist sehr gut gearbeitet, präsent, dröhnt direkt ins Ohr ...
Nelson: Das Stück heißt ja nicht „Dido oder Aeneas“, sondern „Die Trojaner“! Da muss man sein Augenmerk drauf legen, 140 Sänger hatten wir in unserer Produktion, da sollte schon mächtig was rüberkommen (lacht).
niusic: Die Aufnahme ist ja ein Live-Mitschnitt. Glauben Sie, das ist die Zukunft der Opernaufnahmen?
Nelson: Nein, Zukunft sind DVD und Bluray, bei den Opern. Die Leute wollen die visuelle Komponente, das ist die Zukunft der Oper.
niusic: Und Ihre Zukunft? Ist die jetzt komplett den Trojanern verschrieben, so als unbestrittener Experte?
Nelson: Jetzt werde ich sie nie mehr machen. Es geht nicht besser. Ich werde sicher eingeladen werden, aber nach acht Produktionen und jetzt dieser unglaublichen Aufnahme bin ich fertig damit.
niusic: Echt?
Nelson: Mehr Berlioz ja. Aber „Les Troyens“...? Höher als Mount Everest geht nicht, und niemand will ihn zweimal besteigen. Wenn man es einmal überlebt hat.