Maximal unvorbereitet gehe ich in dieses Konzert – und das mit maximal gutem Gewissen. Denn hier gibts ja den musikwissenschaftlichen Input gleich mitgeliefert. So steht es zumindest in der nüchternen Beschreibung auf der Website des Berliner Konzerthauses: „Ein Werk wird präsentiert – vielleicht ohne Vorkenntnisse, auf jeden Fall ohne Programmheft und ohne Einführung. Danach berichten unsere Moderatoren und die Künstler über die Hintergründe und Merkmale des Stücks, das daraufhin ein zweites Mal erklingt“. Der Name dieses Konzertformats, „2 x hören“, erklärt sich somit von selbst. Nur dass zwischen dem ersten und dem zweiten Mal hören eben ein Gesprächsteil eingebaut ist. Und das ist mir erst mal suspekt, obwohl oder gerade weil ich Musikwissenschaftlerin bin. Musik erleben und über Musik etwas lernen – oder im schlimmsten Fall: belehrt werden – trenne ich dem Gefühl nach gern. Doch die Angst vor dem pädagogischen Zeigefinger erweist sich bei „2 x hören“, so viel sei schon verraten, zum Glück als unbegründet. Na, dann hören wir mal.
Erste Überraschung des Abends: Obwohl ich seit mehr als einem Jahrzehnt in Berlin wohne und regelmäßig in Konzerte gehe, kenne ich den Veranstaltungsraum nicht. „2 x hören“ findet im Werner-Otto-Saal statt, ganz oben unterm Dach des imposanten Berliner Konzerthauses: (fast) quadratisch, praktisch, gut. Zwar lässt der altbackene Name etwas anderes vermuten, doch tatsächlich handelt es sich um einen modernen und akustisch hervorragenden Raum. Wie gemacht für Kammermusik 120 . Die bunten Stühle sind als offenes Quadrat um den Flügel und das Sängerpult aufgestellt. Heute gibt´s Schubert-Lieder, so viel immerhin weiß ich. Es gibt keine festen Plätze, aber ein neugierig wartendes, altersmäßig eher fortgeschrittenes Publikum. Ob das am Format liegt oder an der Insider-Gattung Kunstlied 131 : keine Ahnung.
Ursprünglich wurde sie tatsächlich in Kammern gespielt, nämlich in den Privaträumen von Fürsten und Königen. Deshalb spielen in Kammermusik-Werken nur wenige Musiker, zum Beispiel als Streichquartett, Bläseroktett o.ä., zusammen. Bürger des 19. Jahrhunderts entwickelten aus der höfischen Elitekunst ihre Hausmusik, wie z.B. die Schubertiaden, die im kleinsten Kreis vor ausgewähltem Publikum stattfanden. (AJ) ↩
Welche Arroganz! Kunstliedern wird nachgesagt, dass sie anspruchsvoller und erhabener sind als Volkslieder. Letztere funktionieren über das Prinzip Stille-Post, Abwandlungen im Laufe der Zeit inklusive. Kunstlieder umfassen alle Zeiten, the-time-of-the-time war im 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Kunstlieder sind niedergeschrieben, der Autor des Textes hat eine ebenso große Bedeutung wie auch der Komponist. Endlich einmal ausgleichende Gerechtigkeit! (CW) ↩
Konzentrierte, andächtige Stille, schon lange bevor die Künstler erscheinen. Dann treten der Bariton 26 Michael Kupfer-Radecky und der Pianist Eric Schneider auf, mit stampfenden Schritten, als müssten sie die fehlende Bühne durch laute Präsenz wettmachen. Ein kurzes Innehalten, schon geht es los, und ich finde mich mitten in Schuberts Musik-Dramen wieder. Der Text der sechs Lieder ist gut zu verstehen, Kupfer macht wenig Vibrato , jedes Wort artikuliert er präzise, aber nicht übertrieben. Das ist wohltuend und ungewohnt für mich als häufige Opern-Besucherin. Manches rauscht trotzdem unbeachtet an mir vorbei, zu sehr faszinieren mich die dezente Mimik des nur ein paar Meter entfernten Sängers und das fast unmerkliche, zugleich sehr vertraute Zusammenspiel der beiden Musiker. Und natürlich Schuberts phänomenal direkte, dramatische Musik, die auch jenseits der Worte Geschichten vermittelt. Wie klein und fein sind solche Lieder, wie Pralinen im Vergleich zu den sahnigen Opern-Torten. Mal geht es um „Atlas“, der den ganzen Schmerz der Welt auf seinen Schultern trägt, dann um ein romantisches Techtel-Mechtel mit einem Fischermädchen oder um eine grausliche Vision des lyrischen Ichs , der sein Spiegelbild im Fenster des ehemaligen Hauses seiner Geliebten sieht. Harter Stoff, hoch-romantisch, wunderschön.
Er kommt nicht richtig hoch und nicht richtig tief oder um anders zu sprechen: Er ist Meister der angenehmen, wichtigen Töne. Der Bariton ist die mittlere männliche Stimmlage zwischen Tenor und Bass. In der Oper gibt es ihn zum Beispiel in lyrischer und heldenhafter Ausprägung. (MH) ↩
Braucht das überhaupt Erklärung? Viel zu schnell sind die sechs Lieder vorbei, gefühlte 15, tatsächlich eher 25 Minuten. Ich würde gern mehr hören, bin jetzt richtig drin im Schubert-Sound, noch hungrig nach dieser Musik, nicht übersättigt. Auftritt Arno Lücker. Der ehemalige Dramaturg des Konzerthauses macht mit den beiden Künstlern gleich auf kumpelhaft. Man kennt sich, man duzt sich, und man darf sich anscheinend auch sticheln und etwas plump angehen. Das tut dem Setting gut, denn hier wird nicht (bzw. nicht nur) gefachsimpelt über den geistig-musikalischen Gehalt dieser Lieder. Stattdessen wird recht offen darüber gesprochen, was Kupfer und Schneider über ihre Berufe und natürlich über Schuberts Lieder denken. Und das ist bisweilen nicht allzu viel, wie vor allem der Bariton unverblümt zugibt: Kupfer braucht eher den „emotionalen“ Zugang zur Dramatik der Lieder, da kann intellektuelle Auseinandersetzung sogar schädlich sein, sagt er offen. Gefühle statt Analyse: mutiges Statement. Nach und nach werden beide Künstler dadurch, wie sie sich hier geben, als Charaktere greifbarer, plastischer: Kupfer der emotionale, mit leuchtenden Augen, schweift gern ab. Der Pianist Schneider etwas spröde, stiller, aber sehr reflektiert und mit trockenem Humor.
Ein paar musikwissenschaftliche Fakten liefert Arno Lücker dann doch noch per Powerpoint: Schubert, der Liederkomponist, hat über 500 Kunstlieder geschrieben. Beeindruckende Zahl. 6 davon, aus dem Zyklus „Schwanengesang“, nach Texten von Heinrich Heine. Aha. Und Schubert war nicht der einzige, der sich für diese Heine-Texte begeisterte. Lücker spielt zum Vergleich eine Vertonung von Clara Schumann an: gleicher Text, vollkommen andere Stimmung. Nur Musik kann so etwas! Und Lücker schafft ganz gut den Spagat, Fragen anzureißen, mögliche Facetten des Werkes zu erklären, zum Nachdenken anregen. Und sich eben nicht Antworten oder „Wahrheiten“ anzumaßen. Die beiden Künstler werden schließlich von ihm genötigt, eine schaurig-verrauschte Aufnahme aus den 1920ern mit pathetischen Schleifern nachzuahmen. Als klingende Demonstration für die sich verändernden Moden und Geschmäcker in Sachen Lied-Gesang. Sorgt für einige Lacher.
Doch dann: Da Capo 38 ! Das Licht wird abgedimmt, der Sänger vollzieht einen abrupten Rollenwechsel und ist wieder „Atlas“ und der traurig liebende Held. Und ich bin verblüfft: Ich nehme nicht nur die Musik mit mehr Tiefenschärfe wahr, empfinde die sprachlichen Bilder stärker und die Mittel der Musik extremer, sondern auch die Künstler sind nun andere für mich geworden. Durch das halbstündige Gespräch sind sie nicht mehr bloß die künstlerisch hervorragend ausgebildeten Übermittler der Lieder, sondern eben auch Menschen mit Ansichten, Gefühlen und Eigenheiten. Und auch ihre Wahrnehmung hat sich offenkundig verändert: Ist es mehr Selbstsicherheit, mehr Natürlichkeit, mehr Vertraut-sein mit der Situation? Auf jeden Fall ist dieser zweite Durchgang ein vollkommen anderer als der erste, und das für alle im Raum. So liefert „2 x hören“ eine perfekte Versuchsanordnung für die Erkundung des eigenen Hörens und verdeutlicht ganz nebenbei, dass jedes Konzerterlebnis unwiederholbar ist. Hingehen!
Wenn Komponisten zu faul waren, die Wiederholung zu notieren, dann schrieben sie einfach da capo, von Beginn. Und weil die Melodien in den Opern und Oratorien der Barockzeit einfach viel zu schön waren, um nur einmal zu erklingen, hat man das Da Capo-Prinzip gleich zu einer ganzen Gattung gemacht: In der Da-Capo-Arie hat der Künstler zwei Chancen auf Perfektion. Doppelt hält eben besser. (AV) ↩
„2 x hören“ im Konzerthaus: Saison 2015/16
Alle paar Wochen hat man im Werner-Otto-Saal des Berliner Konzerthauses die Gelegenheit zum „2 x hören“. Immer Montags um 20 Uhr, der Eintritt kostet überschaubare 15 Euro (ermäßigt 9 Euro). Das Format wechselt ab zwischen „2 x hören KLASSISCH“ mit Arno Lücker und „2 x hören ZEITGENÖSSISCH“ mit Christian Jost. Doppelt hören kann man bis Ende der Saison noch den Pianisten Francesco Piemontesi mit Mozarts Fantasie KV 475 (2.5.) und das Armida Quartett mit Schumanns 2. Streichquartett (13.6.). Ebenso lohnenswert sind die Begegnungen mit Neuer Musik, wenn etwa das Solistenensemble Phoenix 16 Gérard Griseys „"Les Chants de l´Amour" für 12 Stimmen und Tonband“ (14.3.) spielt. Johannes Moser präsentiert Henri Dutilleux´ „Trois strophes sur le nom de Sacher“(4.4.), und Viviane Hagner und Thomas Hoppe widmen sich Witold Lutosławskis Partita für Violine und Klavier (27.6.).
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© Sebastian Runge/Konzerthaus Berlin