Von Anna Vogt, 15.09.2017

Nord-Süd-Gefälle

Das Programm klang verlockend: Brahms und Verdi in der Berliner Philharmonie, deutsche und italienische Romantik an einem Abend vereint! Gelang diese Begegnung beim „Musikfest“-Debüt der „Filarmonica della Scala“ mit Chefdirigent Riccardo Chailly? Eine Konzertkritik.

Vorsicht, Klischeealarm! Wenn die „Filarmonica della Scala“ – ein Sinfonieorchester, rekrutiert aus den besten Orchestermusikern von Italiens wohl bekanntestem Opernhaus – mit ihrem italienischen Chefdirigenten Riccardo Chailly zum ersten Mal zum „Musikfest“ nach Berlin kommt, präsentiert man natürlich am besten einen Brückenschlag: Brahms und Verdi. Und damit wohl das Deutscheste und das Italienischste, was die jeweiligen Länder zu bieten haben. Schon auf der „Musikfest“-Website schwärmt man daher: „Beides, das italienische Herz und die deutsch-romantische Faszination, bringt Chailly bei seinem ersten Musikfest-Gastspiel als Scala-Direktor zusammen.“ In seinem Programmhefttext verweist Habakuk Traber dagegen vor allem auf die Faszination, die Italien auf Brahms ausgeübt habe. Auf dem Papier klingt dieses Programm ja auch wirklich vielversprechend und sorgt an einem Mittwochabend für eine fast ausverkaufte Berliner Philharmonie: Brahms´ Violinkonzert (mit dem griechischen Geiger Leonidas Kavakos) und nach der Pause Verdis Ouvertüre zur Oper „Les vêpres siciliennes“, außerdem mit „Stabat Mater“ und „Te Deum“ aus den „Quattro pezzi sacri“ zwei Werke mit riesigem Chor.

Zweieinhalb Stunden später bleibt davon die Frage übrig: Warum eigentlich spielt ein solches Elite-Orchester beim „Musikfest“-Debüt nur eine kleine Ouvertüre ganz alleine? Dass die „Filarmonica“ sich bei Brahms und Verdis „Pezzi sacri“ über weite Strecken als „Begleiter“, bisweilen „Partner“ zeigt, verwässert den Eindruck, den man sich gerne von diesem einst von Abbado gegründeten Klangkörper gemacht hätte. Doch genau so spielen die Mailänder leider auch, zumindest stellenweise: als „Begleitorchester“, ein bisschen gemütlich, zurückgelehnt. Immer wieder geraten Einsätze dabei ungenau, nur wenige Augen im Orchester finden den Weg nach vorn zum Dirigenten.
Dabei tanzt Chailly regelrecht auf seinem mit opern-rotem Stoff bezogenen Podest. Er gestaltet den Brahms mit den Händen, mit jeder Bewegung und den Facetten seiner Mimik. Plastisch und glaubhaft fließt die Musik durch ihn, jede Überraschung, jede besondere Wendung transportiert er mit dem ganzen Körper. Herrlich anzusehen! Und noch größer der Kontrast in der ersten Konzerthälfte, wenn ihm der Violinist gegenüber steht: Schließt man die Augen, hört man zwar Leonidas Kavakos` silbrige Stradivari mit ihrem unglaublich schönen, durchdringenden Ton. Kavakos spielt klangvoll und erdig, aber ohne Gewalt, jeder Ton sitzt, jede Phrase ist ausgestaltet, aber nie pathetisch. Doch steht er dabei wie ein sympathischer Wissenschaftler im blauen Hemd da, statisch, technisch, vielleicht einfach introvertiert. Körperlich transportiert sich da wenig, klanglich zum Glück eine Menge. Eine merkwürdige Diskrepanz für Auge und Ohr.

Mit dem Brahms-Violinkonzert in Ohr und Herz kommt einem Verdis Ouvertüre fast lächerlich banal vor.

Nach der Pause zeigt sich bald, dass die Konzert-Begegnung von Brahms und Verdi Schieflage hat: Mit dem Brahms-Violinkonzert in Ohr und Herz kommt einem Verdis Ouvertüre fast lächerlich banal vor. Das dichte sinfonische Gewebe bei Brahms, die komplexe Arbeit mit verschiedenen Stimmen kollidiert mit einfachsten Melodien, Umpf-tata-Begleitung und abrupten Stimmungsumschwüngen bei Verdi, die einem auf dem Podium plötzlich holzschnittartig vorkommen, während sie, einer Opernaufführung vorangestellt, in ihrer atmosphärischen Essenz und ihrem überspitzten, dramatischen Potenzial ganz anders und viel stimmiger wirken. Ein Plädoyer für Verdis (großartige!) Kunst ist diese Konstellation in keinem Fall, auch nicht die Zugabe, eine weitere reißerische Ouvertüre, diesmal aus „La forza del destino“, mit der sich die „Filarmonica“ zuletzt die reflexhaften Beifallsstürme sichert.
Zuvor aber: die beiden Chorwerke aus den „Quattro pezzi“. Hier lässt sich zumindest ein Verdi erkennen, der in seinen letzten Kompositionen auf Augenhöhe mit Brahms seine Einzigartigkeit behaupten kann, durch die in den vielen Opern perfektionierte Musikdramatik, mit der Verdi die biblischen Themen hier versinnbildlichte, und den Einfluss alter polyphoner Gesangstraditionen. So singt sich vor allem der Rundfunkchor Berlin (und Evelin Novak mit ihrem kurzen Sopransolo) bei diesen Werken ins Rampenlicht und wird im Schlussapplaus dafür gefeiert. Was bleibt, ist der Eindruck, dass man über die „Filarmonica“, obwohl sie den ganzen Abend spielte, eigentlich nicht viel sagen kann. Hoffentlich gibt’s eine zweite Chance.

© Kai Bienert


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