Von Christopher Warmuth, 25.11.2017

Hey, ihr »Verantwortlichen«!

Aus für Jamaika. Der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnte: „Es ist eine Bewährungsprobe, aber es ist keine Staatskrise.“ Das ging an alle Parteien. Aber auch an die Bürger, denn sie sind der Souverän der Politik. Beim ersten Scheitern erklingt sofort: Politikverdruss. Aber was bedeutet das – „Verantwortung“?

Bevor jemand als Verantwortlicher verurteilt wird, muss gefragt werden: Warum ist er verantwortlich? Was steht am Anfang?

Es ist kompliziert: „Verantwortung“ ist ein großes Wort. „Sich der Verantwortung entziehen“ ein schwerer Vorwurf. In beidem steckt: „Antwort“. Zuallererst setzt das eine Frage voraus. Wer sich der Verantwortung entzieht, verweigert folglich die Antwort auf eine vorangegangene Frage. Es geht hier aber nicht um eine beliebige Frage, sondern diese ist an eine Forderung gekoppelt. Und tatsächlich, Friedrich Kluge schreibt im „Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache“, dass das Wort „Verantwortung“ aus dem mittelhochdeutschen „verantwürten“ stamme, was ursprünglich meint, dass sich jemand „als Angeklagter vor Gericht verteidigen“ muss.

Im Rechtswesen ist es nicht so leicht, die Antwort zu verweigern. Dort herrscht ein Zwang, es sei denn, der Befragte würde sich mit seiner Antwort selbst belasten. Er muss antworten. Er muss seine „Verantwortung“ wahrnehmen.

Perspektivwechsel

Was würde passieren, wenn Sir Simon Rattle nicht auf dem Podium erscheint und sich seiner Verantwortung als Chefdirigent entzieht? Sofort denkt man: Klar. Die Berliner Philharmoniker können das auch ohne ihn. Sicherlich. Doch das trifft nur zu, wenn vorher geprobt wurde. Einen Probenprozess könnte man auch als fruchtbaren Dialog betrachten. Es gibt Ensembles, die hierarchisch sturkturiert sind, andere verzichten zu höchstmöglichem Maß darauf. Selbst, wenn davon auszugehen ist, dass die Musikerinnen und Musiker nicht mitdebattieren, so treten sie doch in einen Dialog mit dem Dirigenten, weil sie gewisse Sachen spielen und andere eben nicht. Und nach diesem Dialog muss am Ende irgendjemand irgendeine Entscheidung treffen: Wie wird diese oder jene Phrase gespielt?

Aber was würde passieren, wenn Sir Simon Rattle auch nicht mehr in den Proben auftauchen würde? Die 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven würde das Orchester locker hinbekommen. Nicht perfekt vielleicht. Aber sie würden durchkommen. Wie aber sähe das bei einer Uraufführung, also einem komplett neuem Notentext aus?

Und vor wem müsste sich eigentlich Simon Rattle verantworten – also: wer wären seine Richter? Die Musiker? Die Komponisten? Das Publikum? Wenn Rattle dirigiert, muss er sich vermutlich vor allen genannten Parteien verteidigen. Auch gegenüber der Musik und auch dem großen Ganzen gegenüber.

Bevor jemand als Verantwortlicher verurteilt wird, muss gefragt werden: Wer hat ihn verantwortlich gemacht? Und wie?

Zu folgern, dass man nicht mehr fragen sollte, wäre fatal, denn nur so wird Entwicklung garantiert. Jedoch macht der Ton bekanntlich die Musik. Im Grunde ist es keine Frage, sondern eigentlich eine Forderung, die sich das Mäntelchen der Frage nur zur Tarnung umhängt. Jeder Wahlgang zur Urne ist natürlich eine Befragung des Souveräns, aber die Partei der Urnengänger bezeichnet sich eher als diejenigen, die von der gewählten Partei etwas fordern können. Haben die Berliner Philharmoniker das Recht, zu fordern, wie Sir Simon Rattle Beethoven dirigiert? Oder hat das Publikum das Recht, gewisses Repertoire zu erwarten? Durch die öffentliche Finanzierung des Orchesters sind wir in der Wahlkette zumindest indirekt inkludiert. Was wäre, wenn plötzlich „die da oben“ keinen Mozart oder keinen Debussy mehr spielen? Ein Kreuz ist schnell gemacht, aber damit ist nicht alle Verantwortung abgewälzt.

Ein abseitiger Ausweg: Vielleicht müssen wir – die Forderer – lernen, dass wir genug Freiheiten und Freiräume mit in den Verantwortungsprozess schicken, wenn wir unsere aktive Rolle auf das Kreuzchen-Setzen minimieren. Dann müssen wir mehr Vertrauen schenken und uns auf Experimente einlassen. Zu schnell entlarven sich manche als Aasgeier, die nur darauf warten, bis die Beute müde wird. Übersetzt heißt das: „Jede oder jener verkauft seine Prinzipien im Dialog.“ Meist wird das Gegenüber als verlogen bezichtigt, bevor das Ende eines Dialoges sich überhaupt abzeichnen könnte.

Je kleiner die Verantwortung verteilt wird oder je bunter, undurchsichtiger und verlogener die Tarnung der Forderung als Frage ist, desto starrer und unbeweglicher wird das System. Wenn Sir Simon Rattle exakt das tun soll, was er vor seiner Wahl tun wollte, dann schließt das den Dialog mit den Orchestermusikern, mit den Programmmachern und mit dem Publikum aus. Er könnte strikt durchsetzen – autokratisch–, was er versprochen hat. Ohne Dialog. Das kann keiner wollen. Jedes einzelne Mitglied sollte mitsprechen dürfen. Ja, vielleicht müssen. Wer das nicht möchte, sollte zumindest dieses Quäntchen Vertrauensvorschuss und Gestaltungsspielraum für „die da oben“ zugestehen.




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