Von Carsten Hinrichs, 29.09.2018

Am Oarsch mit Dorsch

Minimal Music am Klavier erfreut sich nicht erst seit Philip Glass großer Beliebtheit. Der Pianist Víkingur Ólafsson findet für sein neues Musikvideo endlich die passenden Bilder zum Tasten-Kreisverkehr.

Da steht ein Mann. In grauer Jacke vor entfärbten Einheitsfassaden, dahinter grauer Himmel. Sein Gesicht strahlt solch eine tiefe Trostlosigkeit aus, als handele es sich um einen Werbespot der Musikindustrie zur Warnung vor den Risiken des Raubkopierens. Tatsächlich aber handelt es sich um ein ganz interessantes künstlerisches Experiment: den Versuch, einem klassischen Musikstück ein Musikvideo nach Pop-Manier zu verpassen.



Die Musik ist zwar von Johann Sebastian Bach, aber der hat das Stück eigentlich nicht gemacht. Als Schöpfer in dieser Form muss man den Pianisten Alexander Siloti nennen, denn dessen Eingriffe sind für die Wirkung entscheidend. Für seine Bearbeitung des e-Moll-Präludiums aus Bachs Wohltemperiertem Klavier I ließ er das eigentliche, ariose Thema kurzerhand weg und konzentrierte sich auf die kreiselnden Begleitfiguren des langsamen Anfangs, den er ganz verliebt gleich noch einmal wiederholen lässt. Dafür streicht er einfach Bachs „Auflösung“, das Finale in doppeltem Tempo. Regenwolken ohne das reinigende Gewitter, sozusagen.

Was ist der Reiz der sich unablässig wiederholenden, stets gleich ablaufenden Moll-Kadenzen? Erwartbarkeit? Wiedererkennung?

Man kann Silotis h-Moll-Fassung des Präludiums getrost als das früheste Stück Minimalismus der Musikgeschichte bezeichnen. Und der hat sich nicht erst seit Philip Glass zum Soundtrack der Großstädter gemausert. Was ist der Reiz dieser sich so unablässig wiederholenden, stets gleich ablaufenden Moll-Kadenzen? Steigert die Erwartbarkeit, die ein „Voraushören“ möglich macht, den Genuss? Ist es der Wiedererkennungswert? Im Film „The Hours“ hat Glass‘ Musik dem Umschwung in der Lebensgeschichte der drei Protagonistinnen einen soghaften, schicksalsträchtigen Puls verliehen. Soll auf dieselbe Weise vielleicht das Alltagseinerlei mit Spannkraft gepimped werden? Oder entpuppt sich die endlose Repetition, die jede Sehnsucht nach Fortgang und Struktur zermalmt, bei näherer Betrachtung als Symbol für die sinnlosen Routinen des Metropolenlebens?

Etwa bei Max Richter: Der feiert in seinem Album „Recomposed“ Polterabend mit dem Barockporzellan von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Dafür zerscherbt er die originalen Concerti in kleinste Spielfiguren, die er dann endlos wiederholen lässt, bis sie ihren Sinn eingebüßt haben und man gar nicht anders kann, als sie als etwas Neues zu hören. Beinahe-Neues. Doch auch bei Richter begleitet die flirrenden Violinfiguren ein tiefgründelnd fortschreitender Bass, wie ihn schon Siloti seiner Bach-Paraphrase unterlegt. Dass es auch bei ihm kaum um das Umschiffen spieltechnischer Klippen ging, sondern den herrlich melancholischen Ausdruck, versteht sich bei einem Liszt-Schüler von selbst. Der Cousin von Sergei Rachmaninow lernte zudem als Student am Moskauer Konservatorium den Geist der russische Schule von ihren größten Vertretern: Tschaikowski, Rubinstein, Tanejew. Und den Russen wird ja nun klischeehaft gerne ein gewisser Hang zur Schwermut nachgesagt.

Das sagen manche übrigens auch von den Isländern. Regisseur Magnús Leifsson und Pianist Víkingur Ólafsson, der zuvor mit einem Glass-Album von sich reden machte und nun ein fantastisches Bach-Album veröffentlicht hat, ließen sich für ihr Musikvideo zum Präludium übrigens von einer noch heute existierenden Fischfabrik in Reykjavík inspirieren. Deren Inhaber war so musikversessen, dass er einen Flügel kaufte, mitten in den Produktionsstraßen aufstellen ließ und seinen Mitarbeitern zuweilen mit seinem Spiel den Arbeitsalltag beim Ausnehmen der Dorsche verkürzte. Das gelingt im Video nicht ganz so gut, denn der Fischarbeiter ist untröstlich – weder beim Blick in die glasigen Dorschaugen, noch bei Ólafssons betörendem Anschlag scheint sich eine Perspektive für seinen nicht näher erklärten, und daher auch namenlosen Weltschmerz aufzutun. So abgelegen dörflich sich das Setting präsentiert: wer möchte, schlägt hier leicht den metaphorischen Bogen vom klischeehaft vereinsamten Großstädter zum anonymen Dasein des Fischers. Erst, als dieser der Fabrik den Rücken kehrt und sich mit seinem Ruderboot dem endlosen Grau des Atlantiks ausliefert, geht so etwas wie ein Lichtschein der Zuversicht über sein Gesicht. Macht er sich nun selbständig? Eröffnet er eine Kellerbar? Wie schade, dass Siloti das schnelle Happy End Bachs gestrichen hat.



© Screenshot, Magnús Leifsson


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