#klangprofil

Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

Von Malte Hemmerich, 17.10.2017

Harfen heben

Streaming wird einfacher, Konzerte aus den besten Sälen der Welt kann man inzwischen fast überall bequem zuhause sehen. Ist es da überhaupt noch nötig, als Orchester zu verreisen? Doch das Gürzenich-Orchester Köln bringt mehr mit nach Straßburg, nämlich eine körperliche Erfahrung. Und das mit großem Aufwand.

„Der Saal ist ein anderer, ja, das hab ich gemerkt!“

Gürzenich-Geige

Im Straßburger Musik- und Kongresszentrum fließen Wein und Sekt in Strömen. Schicke städtische Repräsentanten im schnittigen Zweiteiler und schusselige Neue Musik-Freaks feiern zusammen die Eröffnung des Festivals „Musica“ in der elsässischen Hauptstadt. Eine blonde Hostess greift nach zwei frischgezapften Biergläsern und macht sich auf den Weg durch das Getümmel der Leute. Ziel ist die unscheinbare Seitentür, die durch ein verloren herumstehendes Vibrafon fast ganz verdeckt ist. Vorbei an ein paar letzten Musikern des Gürzenich-Orchesters, die sich gerade umziehen und dann schnell ins Hotel hetzen. Noch in der Nacht geht es wieder zurück nach Köln, dort ist schließlich am Abend darauf die „Tannhäuser“-Premiere. Und das Gürzenich wird spielen.
„Ob ich was von Straßburg gesehen habe?“, fragt eine zweite Geige, die unruhig auf der Stelle tritt, fast ungläubig. „Wir hatten wenige Stunden frei, und da will man sich ausruhen. Der Saal ist ein anderer, ja, das hab ich gemerkt“, lacht die kleine Frau und geht zielstrebig zum Hinterausgang. „So ein Gastspiel ist eher stressig-hetziges Herumreisen, besonders heute.“

#klangprofil

Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.

Ein paar Meter weiter hinten wird der Ton rauer und die Stimmung merklich angespannter. Die Biergläser sind hier nun endlich am Zielort angekommen, aber, das sieht man bald, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Orchestermanager Frank Lefers läuft eilig vorbei, gibt den Orchesterwarten die neue Ankunftszeit des LKW durch. Für die Menschen hinter der Bühne beginnt die stressige Arbeit erst so richtig, wenn der letzte Musiker durch die Bühnentür geht und auch der letzte Applaus verebbt ist. Viele schwarzgekleidete Männer schieben braune Transportkisten mit silbernen Scharnier-Verstärkungen und schichten gerade die riesigen Kontrabasskisten an der Verladerampe in die richtige Reihenfolge. Hier kommt gleich der LKW an.

Der Journalist steht im Weg

„Sind die Posaunisten noch im Haus? Die Instrumentenkiste ist nur halb voll!“, ruft Orchesterwart Ilia Beese in Richtung Saal. Keine Antwort. Die Gesuchten hatten sich zuvor noch laut hörbar verabredet, um einen Drink an der Hotelbar zu sich zu nehmen. Stattdessen kommt Dirigent François-Xavier Roth plötzlich vorbei, umarmt die Arbeiter und nimmt Glückwünsche entgegen.
„Ist dann deren Problem, die müssen doch wissen, wo ihr Scheiß ist“, mault eine der Aushilfen, während sie Beese mit einem der bei den Orchesterwarten unbeliebtesten Instrumenten hilft. Es ist die Harfe: „Schwer zu verstauen und die Koffer haben so furchtbar undefinierbare Maße ...“, schnauft Beese, bevor ich zur Seite springen muss, weil wieder etwas Großes vorbei geschoben wird. Im Weg ist man hier aber überall. Neben den drei Orchesterwarten des Gürzenich haben die Kölner noch drei Aushilfen engagiert, zehn Techniker vom Konzertsaal in Straßburg unterstützen sie. Angesichts des engen Zeitplans und der Materialschlacht, die hier heute Abend im Konzert stattfand, gerade genug Leute. Und sie alle arbeiten für diesen einen Moment:

Ein paar Stunden zuvor: Der Salle Erasme im Palais de la musique et des congrès sieht futuristisch aus. Seine Trichterform erinnert an eine Mischung aus Schuhkasten- und Terrassenarchitektur, der Sound ist trocken und fetzig. Und anstatt nur auf einem Musikaltar, nämlich der Bühne vorne, stehen heute Musiker auf sechs Kultstätten, beleuchteten Plattformen hinter dem Zuschauerraum. Gleich drei Glockenspiele erklingen in Philippe Manourys monumentaler „Ring“-Komposition, die von allen Seiten auf die Zuhörer einwogt. Diese Musik ist körperlich erfahrbar, die Instrumente omnipräsent, als wären sie direkt im eigenen Kopf. Dafür stehen sie beim Straßburger Konzert ganz real im Saal verteilt und müssen da anschließend auch wieder weg.

Orchestermanager und Orchesterwart

In der Pause zählt Orchestermanager Frank Lefers ein paar Zahlen für dieses Konzert auf: 115 Musiker, 127 gebuchte Hotelzimmer (auch das Orchestermanagement muss übernachten), ein 16-Meter-LKW und ein normaler 7,5-Tonner. „Den habe ich gerade noch angesimst, er ist auf dem Weg, und das hier ist nicht so einfach zu finden.“ Und da alle Instrumente morgen früh in Köln sein müssen, kommt es hier auf Minuten an.
Besonders aufwändig sei an diesem Abend die Technik. Allein 20 Monitore seien für die Fernorchester nötig, für deren Transport und Programmierung musste man extern einen deutschen Dienstleiter beauftragen. Nur wenige bringen das Know-how mit, eine so komplexe Musik auch technisch zu steuern.

Gesichert! Ein Kontrabass

In der zweiten Hälfte spielt das Gürzenich dann sanftere Klänge, erst wabert eine Debussy-Bearbeitung durch den Saal, dann der „Don Quixote“ von Richard Strauss. Die erste Geige des Konzertmeisters spricht wunderbar kitschig mit dem Solo-Cello. Und wird später überraschenderweise nicht hinter der Bühne in der Sammelkiste für die Streicher liegen.
„Ja, einige Musiker, besonders die Streicher, transportieren ihre wertvollen Instrumente selbst“, sagt Lefers. Obwohl Sicherheit beim Transport natürlich an erster Stelle steht. Die Kisten sind speziell ausgekleidet und werden im LKW penibel verzurrt. Besonders wenn das Gürzenich in Regionen reist, in denen andere klimatische Verhältnisse herrschen, sei die Sorge um die empfindlichen Streich- und Holzblasinstrumente noch größer. Schlimme Zwischenfälle oder gar Verluste gab es aber noch nicht. Die Orchesterwarte um Ilja Beese bekommen eine genaue Auflistung, welches Instrument von wem in welche Kiste gehört. Ein organisatorisches Meisterstück. Und wofür das Ganze?

Bald ein Name in Europa? Roth und das Gürzenich

François-Xavier Roth nippt nach dem Konzert selig an seinem Weißwein, während in der Halle noch die letzten Kisten geschoben werden. Ist es sein Dirigent, dem das Gürzenich dieses prestigeträchtige Gastspiel verdankt? Oder waren die Organisatoren des Straßburger Festivals so beeindruckt von der Kölner Uraufführung von Manourys „Ring“, dass sie das Kölner Orchester unbedingt einladen wollten? Egal. Wichtig ist den Verantwortlichen: Die Marke „Gürzenich-Orchester“ ist nun nicht nur ein Begriff im Straßburger Musikleben, sondern eine handfeste Erfahrung. Eine Gute zudem, wenn man dem Applaus am Ende des Abends Glauben schenkt. Und um sich auch über die deutsche Grenze hinweg im europäischen Konzert- und Festivalleben als vielköpfiges Orchesterunternehmen etablieren zu können, müssen die Musiker schon mal mehr Stress und die Logistiker viele weitere unhandliche Harfenkisten akzeptieren.

Das Kölner Gürzenich-Orchester

Das Gürzenich-Orchester ist nach seinem ehemaligen Konzertspielort, einer Festhalle in Köln, benannt und besteht seit mehr als 125 Jahren. Das Sinfonieorchester der Stadt Köln spielt in der Philharmonie und im Opernhaus. Es brachte so legendäre Werke wie Richard Strauss` „Don Quixote“ und Gustav Mahlers Fünfte zur Uraufführung. Zu den ehemaligen Gürzenich-Kapellmeistern zählen Dirigenten wie Günter Wand und Marek Janowski. Seit 2015 leitet nun François-Xavier Roth das Orchester und setzt einen Schwerpunkt dabei auch auf moderne und zeitgenössische Musik. Das Gürzenich hat inzwischen einen ungewöhnlich großen Abonnenten-Kreis, für Familien, Kinder und Jugendliche gibt es bei den „Ohrenauf!“-Konzerten ein eigenes Programm. Der künstlerische Nachwuchs wird außerdem im Rahmen einer orchestereigenen Akademie gefördert.
Die neue niusic-Themenreihe #klangprofil erkundet am Beispiel des Gürzenich-Orchesters, wie ein Orchester seine ganz eigene Identität entwickelt, wie es einzigartig wird: Welche Rolle spielt die Programmauswahl, wie geht man mit den Möglichkeiten des Online-Streamings um, welche Rolle spielt ein „Image“ durch Werbung, wie identifizieren sich die Musiker mit ihrem Orchester?

© Alexander Fischer


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.