Von Anna Vogt, 02.07.2019

Charakterbildung

Es wäre eine Schande, die grandiosen Säle Bad Kissingens nicht zu bespielen: Das Festival Kissinger Sommer will mehr sein als nur ein schöner Stopp auf den Tourneeplänen berühmter Musiker. Intendant Tilman Schlömp sucht nach der richtigen Strategie dafür.

In Bad Kissingen herrscht Urlaubsstimmung. Eine heitere, fast mediterrane Gelassenheit, die einen mit ihrem entschleunigenden Sog schnell ansteckt: ein Ort für eine Auszeit. Etwa 22.000 Einwohner zählt diese altehrwürdige Kurstadt in Unterfranken, auf halber Strecke zwischen Würzburg und Erfurt gelegen. Im Herzen der Stadt erstrecken sich die Kuranlagen aus dem 18. Jahrhundert: der älteste Kurgarten der Welt und der duftende Rosengarten. Mitten darin thront fast unwirklich und stolz der neobarocke Regentenbau, den Prinzregent Luitpold 1911 in Auftrag gegeben hatte, mit seinem Kirschbaumholz-vertäfelten Littmann-Saal.
Kultur und Natur wirken an diesem Ort zusammen wie in einem Märchenbuch. Auf den weißen Holzbänken in den weiten Gartenanlagen sitzen die Leute und schauen einfach oder hören dem Kurorchester zu, das mehrfach am Tag die Umgebung mit Guter-Laune-Musik berieselt. Viel gibt es hier nicht zu tun, außer sich zu regenerieren. Denn für viele ist Bad Kissingen natürlich ein Ort der Heilung: 17 Fachkliniken zählt Bad Kissingen, Heilbäder und Kurhotels, vor allem für ein älteres Klientel. Dementsprechend hoch ist die Dichte an Rollatoren und Eiscafés im Zentrum der Stadt. Nachmittags brodelt es in der kleinen Altstadt, dann flanieren die Menschen wie in Italien durch die Gassen und über die Plätze, in gemächlichem Tempo. Aber morgens und abends ist es hier still, wie ausgestorben. Ein großes Klassik-Festival an einem solchen Ort zu machen: Wie kann das funktionieren?

Tilman Schlömp hat die Intendanz des Kissinger Sommers 2017 von seiner Vorgängerin Kari Kahl-Wolfsjäger übernommen, die das Festival seit der Gründung im Jahr 1986 über 30 Jahre lang prägte. Für den promovierten Musikwissenschaftler bedeutet die Arbeit beim Kissinger Sommer, wie für die meisten Festival-Macher, vor allem einen täglichen Spagat: Für jeden Festival-Jahrgang entwickelt er eine anspruchsvolle Dramaturgie, die unter einem speziellen Motto läuft, wie in diesem Jahr „1762 – nach der Natur gemalt“. Aber zugleich führt er auch einige der von seiner Vorgängerin etablierten Erfolgsgaranten weiter, festliche Operngalas zum Beispiel, weil das Publikum sie erwartet. Aber diese laufen dann bewusst auf einer zusätzlichen Schiene. Das ist nur konsequent, denn so wird das Motto nicht zur Zwangsjacke, in die man mit einiger Brutalität die Programme presst. Sondern zum Angebot an solche Zuhörer, die für einen Fokus offen sind.

„1762 – nach der Natur gemalt“

Der Bad Kissinger Sommer kreist 2019 vor allem um das mittlere 18. Jahrhundert. Die Zahl 1762 als Aufhänger bezieht sich auf das Jahr der Uraufführung von Glucks Oper „Orfeo ed Euridice“, mit der die Opernreform eingeläutet wurde. Im selben Jahr veröffentlichte Rousseau zudem seine Schrift „Du contract social“. Er formulierte darin einen Gesellschaftsvertrag, der großen Einfluss hatte auf Gesellschaft und Politik und das bis heute. Diese beiden Inspirationsquellen werden im diesjährigen Motto sinnhaft mit dem weiter gefassten Thema Natur verbunden, denn auch bei Gluck und Rousseau geht es um eine Natürlichkeit der künstlerischen Ausdrucksmittel bzw. des Menschenbilds. Die Konzerte und die drei Opernproduktionen, die unter dem Festival-Motto laufen, beziehen sich alle in unterschiedlichen Facetten auf dieses Metathema der Natur und der Natürlichkeit, wie Schlömp in einem Editorial zum Festival erklärt.

Ein Festival, gerade ein breit aufgestelltes wie der Kissinger Sommer ohne klare Spezialisierung, muss sich eine Identität erarbeiten. Denn sonst verliert es sich schnell in der Beliebigkeit. Die Schönheit des Ortes allein reicht nicht aus, um langfristig in der Klassikwelt zu bestehen, das ist auch Schlömp bewusst. Ausverkauft sind die Konzerte in Kissingen fast nie, vielleicht auch, weil Schlömp immer mehr auch Raritäten und Zeitgenössisches aufs Programm zu setzen versucht und sich mit dieser neuen Art der Programmierung nicht nur Freunde macht beim Traditionspublikum. „Es gibt Interessierte“, sagt er dazu, „aber es gibt nicht genug Interessierte.“ Zum Interview sitzen wir im prunkvollen Grünen Saal im Regentenbau. Nebenan im Littmann-Saal hört man die Camerata Bern mit Patricia Koptchinskaja kreischen, gurgeln und zwitschern – letzte Vorbereitungen für das Konzert am Abend, für das sie ein sehr anspruchsvolles Programm mit viel modernen und zeitgenössischen Werken mitgebracht haben. „Das mit dem Motto ist ein Balanceakt“, meint Schlömp. „Als Festivalmacher ist man immer in dieser Zwangssituation, dass man Projekte angeboten bekommt, die man unbedingt machen möchte oder die inhaltlich schon fest stehen, weil der Künstler gerade damit unterwegs ist. Auf der anderen Seite möchten wir inhaltlich etwas Durchdachtes anbieten und wollen das gerne über ein Motto fokussieren, weil man darüber ja Musik auch neu denken und hören kann, gerade die Top 100 Klassik-Hits.“

Festival-Dramaturgie ist Puzzle-Arbeit: Alle Teile müssen passen

Ein Festival-Motto zu entwickeln scheint ein bisschen wie die Aufgabe, ein komplexes Puzzle zusammen zu setzen: Die Teile müssen alle passen, damit am Ende etwas Stimmiges dabei herauskommt. Man muss sich von der Konkurrenz abgrenzen und rechtzeitig mit den anderen Festivals der Region besprechen, wer was macht. Man muss einen griffigen Titel entwickeln, der weit genug ist, um viele Programme sinnvoll zu subsumieren, aber nicht so allgemein, dass er eigentlich überflüssig ist. „Das hat mich als Festivalbesucher auch oft gestört“, sagt Schlömp und lacht, „ich nenne keine Namen, aber wenn ein Motto so etwas wie ‚Unverhofft kommt oft‘ oder ‚Große Emotionen‘ heißt … Man möchte als Zuhörer ja schon ein bisschen an die Hand genommen werden und neue Blickwinkel erfahren durch ein Motto.“

Und das vielleicht Wichtigste: Man muss die Künstler überzeugen, ihr Programm in den Dienst des Festivalmottos zu stellen, auch wenn das für sie extra Arbeit bedeutet. Denn in der Regel tingeln Künstler im Sommer mit dem gleichen Programm von Festival zu Festival. Der Kissinger Sommer wirbt damit, dass mehr als zwei Drittel der Programme exklusiv für das Festival entstanden sind. Nur so kann ein Festival mit Konzertformaten und seinen besonderen Locations experimentieren und über den Festivalzeitraum einen kreativen Ausnahmezustand etablieren, der eben mehr ist als nur eine Konzertreihe in der Saison-Pause.
In diesem Jahr zum Beispiel hat Schlömp zum ersten Mal das Ensemble Spira Mirabilis eingeladen nach Kissingen, für ein Sonderformat. Die Idee: Haydns frühe Sinfonien „Le matin“, Le midi“ und „Le soir“ werden zu den jeweils passenden Tageszeiten im Littmann-Saal aufgeführt, dazwischen gibt es Brunch, Kaffee und am Nachmittag ein Gespräch mit den Musiker*innen. Nur dreimal eine gute halbe Stunde Musik, unterbrochen von langen Pausen, Phasen der Muße. Sowas geht nur bei einem Festival – und ist purer Luxus in einer stressgeplagten Welt.

Intendant Tilman Schlömp im Interview

Schlömp sieht in solchen neu gedachten Konzertformaten eine Möglichkeit, auch ein neues Publikum anzulocken, allerdings nur, „wenn man über dem Event-Charakter nicht die Kunst vergisst. Man muss einen Rahmen bieten, der es ermöglicht, die Musik wirklich sinnvoll und schön zu hören, denn sie ist die Hauptsache. Aber auch das entspannte Essen und Trinken gehören hier dazu. Das vermisse ich manchmal in Großstädten: Es gibt die Hochkultur, die Musik. Und danach komme ich in ein lautes Foyer, wo Gläser durcheinander klirren, wo ganz viel in Richtung Kommerz gedreht ist, wo ich viel ausgeben soll, in langen Schlangen warte, ungemütlich stehe, einen lauwarmen Sekt trinke …“.

Es ist eine Musik-Utopie, die an diesem Tag in Kissingen mit dem Publikum geteilt wird.

Das ist in Bad Kissingen tatsächlich anders: Um 10 Uhr morgens, zur „Le matin“-Sinfonie, sind Ohren und Geist spürbar wach und aufnahmefähig. Die 23 Musiker auf der Bühne finden mit Blicken, Gesten und kleinsten Bewegungen zusammen, wie es die meisten Orchester mit Dirigent nur selten schaffen. Weil jeder einzelne Verantwortung übernimmt, jedes Details basisdemokratisch diskutiert und immer wieder ausprobiert wurde. Das ist spürbar. Schade, dass der Saal nur halb gefüllt ist, denn so einen frischen und lebendigen Haydn erlebt man nur selten. Wenige Schritte weiter kann dann im Kurgarten-Café die Musik noch in einem nachklingen, während man (zu moderaten Preisen) einen Kaffee mit Blick auf den munter sprudelnden Springbrunnen trinkt. Bei der bis auf den letzten Platz gefüllten Gesprächsrunde am Nachmittag fragt das Publikum interessiert nach, was sich ihm in den ersten beiden Konzerten aufgedrängt hat – und erfährt unter anderem, wie die besondere (und sehr „unökonomische“) Arbeitsweise als selbstorganisierter Klangkörper bei Spira Mirabilis konkret aussieht und warum diese für viele der Musiker einen wohltuenden Ausgleich zur sonst so eng durchgetakteten Orchester-Welt bietet. Es ist eine Musik-Utopie, die an diesem Tag in Kissingen mit dem Publikum geteilt wird.

Am späten Abend dann beschließt im Kurgarten-Café nebenan, unter opulenten Kronleuchtern, das vision string quartet mit einem Late-Night-Konzert diesen langen Tag, elektronisch verstärkt und mit eigenen Kompositionen. Es ist ein ganz anderes Publikum, im Schnitt wohl 30 Jahre jünger, das hier um 23 Uhr mit Getränk und Häppchen versorgt das Berliner Quartett feiert, das in seinen Kompositionen Jazz und Heavy Metal ebenso verbaut wie Swing und Samba. Dass die vier ursprünglich auch Haydn in ihrem Programm thematisieren sollten, um so zum Abschluss des „Haydn-Tags“ noch den Sprung vom 18. Jahrhundert ins Hier und Heute zu schaffen, war eine schöne Idee in der Dramaturgie. Die dann aber (bis auf eine Haydn-Verfremdung in der Zugabe) von den vier Jungs doch zugunsten eigener Arrangements aufgegeben wurde. Was nicht passt, wird auch nicht passend gemacht.

Bad Kissingen ist widersprüchlich und sicher kein einfacher Ort für ein großes Klassikfestival. Dass es hier dennoch seit einigen Jahrzehnten jeden Sommer vier Wochen lang die Weltstars hinzieht, liegt sicher zum Teil an dem schönen Ambiente und zu einem vielleicht noch größeren Teil an den tollen Sälen. Solche Räume wie der Littmann-Saal mit seinen insgesamt über 1000 Plätzen und seiner fantastischen Akustik – man muss sie einfach bespielen! Doch das allein wird nicht ausreichen, um langfristig als Festival in einem kleinen Städtchen bestehen zu können und alle Konzerte, nicht nur Galas und sonstige Glamour-Events, voller zu bekommen. Das erfordert behutsame Aufbauarbeit, viel Diplomatie in Bezug auf die verschiedenen Publikumsschichten und -erwartungen und vor allem klare Ideen, wie die Zukunft für ein solches Festival aussehen könnte. Dass die Zuganbindung zu wünschen übrig lässt, gelegentlich ab 22 Uhr kaum ein Restaurant noch warme Küche anbietet und die Hotels zu Festivalzeiten schnell an ihre Kapazitätsgrenzen kommen: Das sind die Neben-Baustellen, mit denen Bad Kissingen sich auch noch befassen muss, um sein Festival stärker in den Radar der Musikwelt zu rücken. Puzzlen ist etwas für Geduldige ...

© Spira Mirabilis: Giancarlo Pradelli
© Kurgarten: Kissinger Sommer
© Tilman Schlömp: Kissinger Sommer
© vision string quartet: Tim Kloecker
© Max-Littmann-Saal: Kissinger Sommer


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