Von Malte Hemmerich, 08.05.2018

Einsam gemeinsam

Das ist die Zukunft: Menschen singen, räumlich getrennt und einsam in ihrem Zimmer in ihr Mikro, und die Technik sorgt für chorischen Zusammenklang. So funktioniert der Virtual Choir von Eric Whitacre und ist damit sehr erfolgreich. Trotz peinlicher Animationen.

Wer heute denkt, die Zukunft des gemeinsamen Singens liegt in muffigen Gemeindehäusern, wenn sich vergreiste Menschen zusammensetzen, um die alten Lieder zu singen, der irrt. Gemeinsam Singen ist hip. Ganz einfach mit Beat im Ohr seine Stimme über Skype aufnehmen, allein in den eigenen vier Wänden mit unendlich vielen Versuchen und keiner Angst vor Blamage im Kollektiv. Ein Chor, der nur virtuell existiert. Gemeinsam und allein, ein Gegensatz? Nicht in unserem digitalen Zeitalter, wo wir dank der modernen Kommunikationsmittel ständig und überall verbunden sein können.

Im Jahr 2010 kam dem Komponisten Eric Whitacre die Idee, über das Netz einen Chor zusammenzustellen. Nach genauen Anweisungen zu Aufnahmetechnik und Intonation konnten Menschen weltweit ihre Stimme aufnehmen und einsenden. Zusammengeschnitten und abgemixt entstand so ein riesiger Chor. Waren es im ersten Video noch 158 Stimmen aus 12 Ländern, ist man mittlerweile, in der vierten Videoausgabe, mit 5909 Sängern aus 101 Ländern exponentiell gewachsen. Das Projekt zieht an, vor allem junge Menschen, die der Technik gewachsen sind.



Ein Mangawesen läuft durch eine Stadt, in der in Wolkenkratzern Menschen singen. Natürlich einsam, eine Gemeinschaft ist das in den seelenlosen Appartements nicht wirklich. Durch den synthetischen Gesang beflügelt, lernt das Wesen derweil fliegen, dazu dröhnt ein technischer Mischmasch aus den Boxen. Überall Farben und Sternenstaub. Das Pathos, die fragwürdigen ästhetischen Animationen und die simple Botschaft des Videos kommen offensichtlich gut an.
So holt man seine zwei Millionen Klicks. Wer aber all den Schnickschnack beiseite lässt, hört ein ziemlich generisch und tot klingendes Stück, alle Stimmen scheinen gleichgetrimmt, die Hälfte des Videos nimmt der Abspann mit allen Beteiligten ein. Denn der Virtual Choir ist nun schon ein kleines Unternehmen. Rund 25 Festangestellte betreuen das Projekt, zur Finanzierung brachte man per Crowdfunding 100.000 Dollar zusammen.

Die Kompositionen stammen immer vom charismatischen Chorführer höchstselbst, der bis zum Grammy schon mit allen Preisen für seine Musik überhäuft wurde. Er beschreibt sein Schaffen mit: „Ich versuche Musik zu schreiben, die ehrlich ist, strukturell solide, einfach gut geschrieben. Ich habe das Bild eines Schwans im Kopf, der scheinbar mühelos über den See gleitet, doch unter Wasser paddeln fleißig die Schwimmfüße.“
Manch ein Kritiker mag da sagen, die Musik vermeide jedwede Spannung und Fortschritt sowieso. Das Ganze klingt dann auch eher nach elbischer Filmmusik, die so dahindümpelt, denn nach einem wirklich echten gemeinsamen Chorgesang.

„Ich versuche Musik zu schreiben, die ehrlich ist, strukturell solide, einfach gut geschrieben. Ich habe das Bild eines Schwans im Kopf, der scheinbar mühelos über den See gleitet, doch unter Wasser paddeln fleißig die Schwimmfüße.“

Eric Whitacre

Natürlich muss ein Nebelschleier im Tonschnitt über die Stimmen gelegt werden, sonst sind Störeffekte der einzelnen Aufnahmen zu hören. Aber ist dieser singende Synthesizer noch als menschlicher Chor zu bezeichnen? Irgendwie zeigt das Projekt Virtual Choir bei allem Zuspruch und der Freude, die Menschen sicherlich bei Einsendung ihrer Stimme haben, auch die schlimmsten Seiten unserer Zeit: Den andauernden Anspruch, perfekt zu sein, gleichförmig und ja nicht aus dem Raster zu fallen. Den Sieg der Technik über das Menschliche. Sie hilft, das Persönliche unserer Stimme in ein wohlklingendes anonymes Cluster zu pressen.

Ein Chor wird lebendig durch direkte Interaktion, durch seine diversen Stimmfärbungen und Persönlichkeiten. Das alles ist beim Virtual Choir nicht möglich und lässt ihn für Musikfreunde wie eine unschöne dystopische Zukunftsvision von Musik erscheinen. Er reiht sich dabei ein in eine große Anzahl von Musik-Online-Projekten, wie zum Beispiel auch das Youtube Symphony Orchestra, die zwar als Happening funktionieren mögen, aber niemandem die Macht und Wirkung guter Musik näherbringen können, oder was es heißt, sie selbst zu machen.

© Screenshots von YouTube: Malte Hemmerich


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