Von Jonas Zerweck, 27.09.2018

Orchester der Individualisten

Im Baltic Sea Philharmonic spielen junge Musiker aus Nationen miteinander, die Jahrhunderte lang gegeneinander Krieg geführt haben. Wie funktioniert das? Und warum freut sich ihr Dirigent Kristjan Järvi, wenn die Musiker im Konzert tanzen? Beobachtungen aus dem Tourbus und Konzertsaal.

Aus der Gruppe am Straßenrand ruft jemand laut: „On the bus – the bus! We go for the big one!“ Die nächste Laola-Welle wird vorbereitet. Dann rollt der Bus von der kleinen Fähre Richtung Straße an den gut zwanzig jungen Orchestermusikern vorbei – und löst damit natürlich eine ganze Reihe fliegender Hände aus. Nicht, dass das ein einmaliger Spaß wäre, das geht so schon eine ganze Weile mit allem und jedem, der an der Gruppe vorbeifährt. Die jungen Musiker verströmen Energie. Auf die Umjubelten, von denen manch einer begeistert zurück hupt, und auf die Seniorenreisegruppe der anderen Straßenseite, die ebenfalls mit Laola-Wellen anfängt. Lauter Jubel brandet auf an diesem sonst so ruhigen, kleinen Fährhafen.

Reisetag: Von Peenmünde auf Usedom zieht das Baltic Sea Philharmonic in zwei großen Reisebussen nach Danzig. Gestern noch hat es mit seinem Dirigenten Kristjan Järvi das Usedomer Musikfestival eröffnet, morgen spielt es in der polnischen Filharmonia Bałtycka, der letzte Stop auf der einwöchigen Konzerttour.

Der eng getaktete, nun schon fast zwei Wochen dauernde Proben- und Tourneeplan hat alle geschlaucht. Im Bus schläft oder döst der Großteil erschöpft. In einzelnen Momenten wie dem an der Fähre blitzt aber immer wieder auf, welch hohes Energielevel in dieser Gruppe steckt. Bei ihrem Auftritt in Peenemünde wurde das noch deutlicher: Während des letzten Stücks, das sie wie die gesamte zweite Hälfte auswendig, stehend und in der Aufstellung durcheinander gewürfelt gespielt haben, zeigten die Musiker plötzlich eine Choreografie. Es wurde leicht getanzt, Platz für die Fagotte bei ihrem Solo gemacht und Instrumente in der Luft geschwenkt.

„So etwas funktioniert einfach nur hier.“

Anna Wałek, Violinistin im Baltic Sea Philharmonic

Bei einem Zwischenstop an einer Tankstelle, irgendwo zwischen zwei nordpolnischen Dörfern, verrät die Violinistin Anna Wałek, dass es gar nicht so einfach war, sich gleichzeitig auf Choreografie und Instrumentenspiel zu konzentrieren – zumal sie sich erst zwei Stunden vor dem Auftritt gemeinsam dazu entschlossen hatten. Und Kristjan, wie sie ihn alle anreden, durfte schießlich auch nichts davon mitbekommen. Umso größer sei seine Freude und Überraschung gewesen, als das ganze Orchester mitten im Stück plötzlich mit den synchronen Bewegungen begann. „Man hat ihm seine Freude richtig angesehen, er hat über beide Ohren gegrinst. Genau das ist das Tolle an ihm und diesem Orchester – sowas funktioniert nur hier.“

Für Järvi selbst ist das nicht nur ein Spaß, den er gerne mitmacht, sondern Kern dessen, worum es ihm mit dem Orchester geht: „Ich ermutige sie dazu, solche eigenständigen Dinge zu tun. Es geht um Herausforderungen und darum, dass sie sie nutzen, um ihre Grenzen zu überwinden – um letztlich festzustellen, dass sie eigentlich keine Grenzen haben.“ Gutes Orchesterspiel sei weniger Ziel als vielmehr Resultat einer Gleichung: „Wenn du Menschen ermächtigst, dann übernehmen diese Personen Verantwortung. Mit Verantwortung werden sie zu Anführern innerhalb des Kollektivs. Das befähigt sie zum einen, andere zu leiten, aber weil sie alle Anführer sind, werden sie innerhalb des Ganzen auch zu wichtigen Verknüpfungspunkten. – Ein Team aus Anführern, die alle Verantwortung übernehmen.“ Einigkeit durch individuelle Identität, anstatt durch Gleichheit.

Innerhalb dieses Projekts gelingt Järvis Ansatz sehr gut: Für Saimi Kortelainen, mit ihren zwanzig Jahren eine der Jüngeren und erst seit zwei Tourneen im Orchester, ist der entscheidende Unterschied zu anderen Orchestern, dass „ich mich nicht unsichtbar fühle. Wenn ich hier Violine spiele, bin ich nicht eine von vielen Musikerinnen, sondern ich weiß, dass es auf mich ankommt. Nur wenn jeder sein Bestes gibt, entstehen die Magie und Energie, die wir immer in unseren Konzerten haben.“ Gegenseitige Unterstützung und eine starke Verbindung zueinander, anstatt Neid auf das längere Solo oder die schönere Stelle.

Vereint trotz der kriegerischen Geschichte

Den besonders freundschaftlich-kollegialen Umgang lebt Järvi vor. Die Musiker finden in Gesprächen ausschließlich Lob und Respekt für ihren Dirigenten. Vor und nach den Konzerten mischt er sich mitten unter sie. Er ist ansprechbar, behandelt jeden auf Augenhöhe. Das gute Verhältnis zwischen Dirigent und Orchester ist einer der Knackpunkte dieser funktionierenden Gemeinschaft.

„Stereotype eignen sich allerhöchstens für gemeinsame Scherze.“

Evgenia Pavlova, Konzertmeisterin des Baltic Sea Philharmonic

Das ist nicht selbstverständlich. Das Baltic Sea Philharmonic besteht aus jungen Musikerinnen und Musikern, meist noch Studenten, aus den neun Ländern, die an die Ostsee grenzen, plus Norwegen. Eine Zusammensetzung, die – zumindest geschichtlich gesehen – nicht ganz unproblematisch ist. Im Hier und Heute allerdings spielen die einst trennenden Unterschiede keine entscheidende Rolle. „Wir legen es nicht bewusst darauf an, uns mit unserer gemeinsamen, auch schwierigen Geschichte oder dem aktuellen Weltgeschehen auseinander zu setzen, aber natürlich kommen wir manchmal in Gesprächen darauf. Es ist wie sonst auch, wenn man sich zuhause mit Freunden unterhält. In diesen Gesprächen geht es nie um das, was uns trennt, sondern wir erinnern uns eher an das, was passiert ist“, erzählt Miłosz Madejski. Er ist schon seit vielen Jahren dabei, genauso wie Evgenia Pavlova, die Konzertmeisterin des Orchesters. „Natürlich hat man Stereotypen im Kopf, die man zuhause mitbekommt, aber es ist ja klar, dass sie so nicht stimmen und auch, dass sie vollkommen verfliegen, sobald man Menschen aus den anderen Ländern kennen lernt. Sie eignen sich allerhöchstens dazu, um gemeinsam Scherze darüber zu machen“, ergänzt sie lachend. Alle begegnen sich auf einer rein persönlichen Ebene, für Ablehnung aufgrund der Herkunft ist kein Platz.

Auf Eigeninitiative kommt es an

Letzter Konzerttag: In Danzig arbeitet Kristjan Järvi in der Generalprobe noch einmal sehr ernsthaft an Jean Sibelius „Sturm“. Es geht ihm um Ausdruck, machmal auch Dynamik 42 . „Versuch hier nicht, richtig zu intonieren, sondern spiel vor allem selbstbewusst!“, ermutigt er den Bassklarinettisten. Das Orchester spielt auf hohem Niveau: Mit donnernden Fortissimos, wenn Sibelius es gewittern lässt, für die Ruhe nach dem Sturm haucht es dagegen gerade hörbare, fein glitzernde Pianissimos in die Luft. Manchmal spielen nicht alle ganz synchron, oder ein Ton wird mal nicht blitzsauber intoniert, aber um polierte Klangschönheit geht es hier auch nicht. Stattdessen um gelebten Ausdruck, eine funktionierende Verbindung zum Publikum sowie Spaß und Energie auf der Bühne. Daneben zählen für Järvi Eigeninitiative und Vertrauen in sich selbst – wie eben das Entwickeln der Choreografie.

Das von Järvi zusammengestellte Programm kommt diesen Intentionen sehr entgegen. Neben Sibelius „Sturm“ stehen sehr effektvolle Werke zeitgenössischer, baltischer Komponisten auf dem Programm, die sich alle – wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen – im weiten Feld der Minimal-Music begegnen. Stücke, die beim ersten Hören ein Publikum elektrisieren können und den Musikern den nötigen Raum zum Ausprobieren geben, weil ihre Partituren 251 nicht extrem schwierig aufgebaut sind.

Das Baltic Sea Philharmonic sucht nach Antworten auf die Frage: Wie könnte das klassische Konzert von morgen aussehen? Järvi hat einen möglichen Ansatz gefunden, indem er das Verhältnis zu seinen Musikern verändert hat und ihnen Freiraum gibt. Auf den Regelbetrieb städtischer Orchester wird dieses Modell nicht zu übertragen sein, aber vielleicht ja einzelne Aspekte, wie die demokratischere Haltung des Dirigenten. Vermutlich gibt es auch gar keinen allein gültigen Weg für die Erneuerung des Konzertsettings im 21. Jahrhundert, aber das Baltic Sea Philharmonic lebt einen Versuch.

  1. In dieser Schublade schlummert sehr viel: Die Lehre der Dynamik hat alles unter ihrer Kontrolle, was mit Lautstärke zu tun hat. Egal ob fließende Veränderungen, einheitliche Stufen oder abrupte Veränderungen der Lautstärke. Ein bisschen Italienisch schadet da nie, jedenfalls bei alter Musik. Viva il volume! (CW)

  2. Die Partitur ist das Buch der Musik: Ganz genau ist hier jedes Instrument mit seinen Noten niedergeschrieben, damit die Ideen und Visionen des Komponisten die Zeit überdauern und immer wieder zu klingender Musik werden können. Dass sich manches nicht gut notieren lässt – genaue Phrasierungen, Tempi oder Ausdruck zum Beispiel – gibt uns heute die Gelegenheit, herrlich über Interpretationsfragen zu streiten. (AV)

Das Baltic Sea Philharmonic

Mit seiner „Nordic Pulse“-Tournee, die in Danzig ihren Abschluss gefunden hat, feierte das Baltic Sea Philharmonic auch sein 10-jähriges Bestehen. 2008 wurde es auf Initiative des Usedomer Musikfestivals und der Nord Stream AG gegründet. Jedes Jahr treffen sich die Musikerinnen und Musiker zu drei bis vier Arbeitsphasen mit jeweils anschließender Tournee. Die meisten sind Studenten während ihrer letzten Semester oder sie haben das Studium gerade abgeschlossen und stehen vor ihren ersten Anstellungen. Die nächsten Konzerte in Deutschland finden am 26. Juni 2019 in der Berliner Philharmonie und am 2. Juli 2019 in der Elbphilharmonie Hamburg statt.
Zudem wirkt das Projekt offenbar inspirierend: Ehemalige Mitglieder haben das „C/O chamber orchestra“ gegründet, die Konzertmeisterin Evgenia Pavlova das „Vienna Ensemble“. Beide zeichnen sich ebenfalls durch den multinationalen und demokratischen Aspekt des Baltic Sea Philharmonic aus.

© Peter Adamik (Baltic Sea Philharmonic)
© Jonas Zerweck
© Katharina Wickel (Baltic Sea Philharmonic)


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