Von Thilo Braun, 15.09.2016

Wunderlich, der Alleskönner?

Nach einem tragischen Treppensturz, im Alter von nur 35 Jahren, verstarb Fritz Wunderlich am 17. September 1966. Die Bestürzung in der Musikwelt war damals groß – bis heute gilt er vielen als größter lyrischer Tenor aller Zeiten. Wie viel Augenwischerei steckt hinter dieser Mystifizierung?

„So schön glaube ich später keinen Tenor mehr gehört zu haben.“

Joachim Kaiser

„So schön, so fließend lyrisch bewegt und technisch fantastisch wie Wunderlich singen konnte – nicht nur als lyrischer Tenor, sondern auch als Mozart-Tenor, als Schumann-Liedersänger – so schön glaube ich später keinen Tenor mehr gehört zu haben.“ Eine Lobeshymne! Sie stammt von Joachim Kaiser, dem alten Großkritiker der Süddeutschen Zeitung, der sonst nicht gerade zimperlich mit Kritteleien war. Als Kaiser diese Laudatio 2009 in die Kamera spricht, ist Fritz Wunderlich bereits über vierzig Jahre tot, der Mythos um Mensch und Stimme dagegen quicklebendig. Zeitgenossen und Freunde nähren ihn über die Jahre emsig. Wunderlich als Musiker, als Mensch, als Kämpfer – überall erscheint er als perfekt, Sängerkollegin Anneliese Rothenberger resümiert: „Er ist bis heute nicht ersetzt“. Aber ist er das wirklich nicht? Gibt es sie nicht heute ebenso, die vollendet erscheinenden Sänger? Oder, anders herum betrachtet, war es nicht damals wie heute Augenwischerei, einem Musiker universale Perfektion zuzuschreiben?

Die kritische Reflexion des Mythos Wunderlich ist deshalb so heikel, weil jede unangenehme Frage als Beleidigung des Toten aufgefasst werden könnte. Viel zu tragisch, zu früh verstarb der damals erst 35-Jährige, brach sich bei einem Treppensturz den Schädel, als Vater zweier Kinder, auf dem Gipfel der Karriere. In diesem Text, fünfzig Jahre später, soll trotzdem am Mythos Wunderlich gerüttelt werden. Nicht, um den Heldentempel einzureißen, sondern um seine Architektur zu begreifen.

Wo bleibt das Feuer, Tamino?

Im Zentrum eines Wunderlich-Heiligtums stünde wohl die Opernfigur des Tamino. Schon Zeit seines Lebens ist immer wieder die Rede vom vollendeten „Mozart-Tenor“, der den Jammerlappen aus Mozarts Opern neues Feuer schenke. Legt man die 1964 produzierte Zauberflöten-Einspielung mit Karl Böhm und den Berliner Philharmonikern ein, um sich entzünden zu lassen, kommt man über ein zartes Glimmen aber nicht hinaus. Kraftvoll und inbrünstig singt Wunderlich die Bildnis-Arie 102 schon, allerdings mit soviel kitschigem Schmelz aufgebauscht, dass die natürliche Klangfärbung leidet. Die Leistung ist ordentlich, für einen Mythos reicht das aber nicht. In einer Video-Aufzeichnung der Bildnis-Arie kommt man der Sache schon näher.

  1. Wie sprechen, nur schöner: In der Oper unterhalten sich die Menschen singend. Während sie im Rezitativ versuchen, möglichst viel Handlung zu erzählen, dürfen Papageno, Carmen und Co. in der Arie ihren Gefühlen Luft machen. Herausgelöst aus der ursprünglichen Geschichte wurden diese Schmuckstücke manchmal berühmter als die Oper selbst. (AJ)



Was für ein ernstes Sehnen aus diesen Augen funkelt! Die hohe Stirn, im Rausche der Empfindung zart gekräuselt, verspricht einen edlen Geist, das Lächeln der Mundwinkel hat menschliche Züge. Er hätte auch weniger rein und jugendlich singen können, einem solchen Helden wäre das Publikum ohnehin verfallen. Überraschend an diesem Mitschnitt von 1961 ist, dass er sogar musikalisch eher überzeugt als die Studio-Aufnahme. Es zeigt sich hier ein Phänomen, das man auch bei anderen Aufnahmen zu beobachten meint: Wunderlich braucht sein Publikum, um zu brillieren.

Kaum eine Rolle, die es nicht auf Platte gibt!

1953 entstehen noch als Student erste Operetten-Arien für den Südwestfunk in Freiburg, der letzte Mitschnitt stammt von einem Liederabend in Edinburgh 1966. Die Diskografie in den 13 Jahren dazwischen versetzt schon ihrer Ausmaße wegen in Staunen: Allein die Studioaufnahmen bei der Deutschen Grammophon füllen 32 CDs! Und diese Vielfalt. Da sind Opern-Arien von Monteverdi bis Wagner, Oratorien 71 von Bach, Lieder von Beethoven, Schumann, Schubert, Strauss, außerdem eine beachtliche Ansammlung von Tanzliedern und Operettenschlagern. Kaum eine Rolle des lyrischen Stimmfaches scheint es zu geben, die er nicht auf Platte eingespielt hat. Und tatsächlich: Die stimmliche Qualität ist fast ausnahmslos auf höchstem Niveau!

  1. Die Opern der Kirche. Hier geht es nicht unbedingt um sex and crime, sondern um geistliche Geschichten, und die Kostüme fehlen. Die Handlung wird von den Hauptfiguren, den Solisten und vom Chor musiziert. Gott frönen in der Musik, und das mit dramatischer Handlung. (CW)



Zwischen Hudelei und ergreifender Innigkeit

Anders steht es um die Interpretation der Werke. Vor allem die barocken 27 Arien, die Opern von Händel, die Oratorien von Bach, haben oft primär den Schönklang zum Ziel. Wie eine Belcanto-Arie 29 schmettert er etwa das „Deposuit potentes“ in Bachs Magnificat heraus, ohne Dehnung der Phrasen, in völliger Gleichberechtigung der Noten zueinander. Natürlich, die Zeit der historischen Aufführungspraxis lag noch in der Zukunft, jedoch zeigt seine Interpretation der Arie „Sanfte soll mein Todeskummer“ aus dem Osteroratorium Bachs, dass er auch sensiblere Interpretationen zu Stande bringen konnte: Absolut rein fließen dort die Läufe dahin, sein Timbre steckt voller Innigkeit und Wärme, berührt unmittelbar.

  1. Reifrock, Puder, Mätressen und Schampus. Willkommen im Barock. Musikalisch endet diese Epoche mit dem Tod von Johann Sebastian Bach. Die Musik ist mathematisch komplex geführt, ergötzt sich an Verzierungskunst und wurde häufig für die Kirche komponiert. Der Barock bietet aber mehr als Schwulst und Erhabenes. (CW)

  2. Wenn Norma schönste Gesangslinien flötet, obwohl ihr eigentlich vor Schmerz die Stimme brechen müsste - dann ist das Belcanto. Eine ganze Opernepoche in der eines am wichtigsten ist. Kunstvoller Gesang. Bekannteste Vertreter: Rossini, Bellini und Donizetti. (MH)

Vielleicht liegt es an der Jugend Wunderlichs, dass ausgerechnet die melancholisch gefärbten Arien so gut gelingen. Er kennt die harten Seiten des Lebens. Als er fünf Jahre alt ist, nimmt sich sein Vater das Leben, im Krieg muss er mit der Mutter bettelnd um die Häuser ziehen, verliert einen Freund im Bombenhagel. Aus der Studienzeit sind Briefe überliefert, in denen er die Freiburger Musikhochschule anfleht, ihm einen Teil der Gebühren zu erlassen – um sich über Wasser zu halten, zieht er nachts durch die Kneipen und spielt Tanzmusik. Nach außen lässt er sich aber nichts anmerken, Kommilitonen schildern ihn als stets zu Scherzen aufgelegten, hilfsbereiten Kollegen. Eine Maskerade?

Den bübischen Witz zumindest hat Wunderlich sich behalten. In seinen Aufnahmen populärer Tanzlieder sprüht er vor Charme, besonders in jenen Stücken, welche in ihrer Oberflächlichkeit so offensichtlich sind, dass man bereits wieder eine Tiefe darunter erahnt, „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ etwa.
Vergleicht man Wunderlich mit Tenören unserer Zeit, so gibt es in den jeweiligen Gattungen durchaus konkurrenzfähige Kandidaten. Joseph Calleja etwa kann sich als Heldentenor mit ihm messen, er erreicht in den glühenden Spitzentönen vielleicht sogar noch mehr Volumen als Wunderlich. Im Oratorienbereich könnten Sänger wie Christoph Prégardien oder Tilman Lichdi genannt werden, die zumindest in der Ausgestaltung der Evangelisten-Parts weitaus spannendere Geschichten erzählen, als Wunderlich es je getan hat.

„Das Entscheidende ist nicht nur die Stimme allein beim Singen.“

Fritz Wunderlich

Italianità mit zittriger Empfindsamkeit

Und beim Kunstlied? Hier lässt sich ein Phänomen feststellen: Schumanns „Dichterliebe" in Wunderlichs Studio-Aufnahme von 1966 gehört bei Spotify zu den meistgehörten, folglich beliebtesten Aufnahmen. Das verwundert, ist diese Interpretation doch seltsam distanziert und artifiziell. Wie viel mehr Zwischentöne vermag etwa Ian Bostridge dem „Wunderschönen Monat Mai“ zu geben, im Hoffen zu Beginn steckt bei ihm bereits die schmerzvolle Todesahnung. Hört man jedoch die Live-Aufnahme Wunderlichs von den Schwetzinger Festspielen 1965, glaubt man seinen Ohren nicht zu trauen.
Hier stimmt einfach alles! Voller italianità brilliert die Stimme auf den Vokalen, die zarten Vibrati scheinen direkt aus dem Herzen zu entstammen, und zugleich klingt alles so natürlich, ja unschuldig. Diesen Stimmfluss kann Ian Bostridge nicht liefern, diese zittrig-strahlende Empfindsamkeit kriegen auch ein Christian Gerhaher oder Christoph Prégardien nicht hin.

Vielleicht lässt sich der Mythos Wunderlich so erklären. Dass jeder, der einmal in den Bann gezogen wurde, fortan jede seiner Aufnahmen unter dem Eindruck diese Empfindung hört. Eine weniger perfekte Studio-Aufnahme ruft dann in erster Linie eine Konzert-Erinnerung wach, man hört nicht einen Mangel an Feinarbeit heraus, sondern sieht ihn in Gedanken vor sich stehen, im glühenden Eifer, mit leuchtendem Blick. Wunderlich selbst wusste ja schon: „Das Entscheidende ist nicht nur die Stimme allein beim Singen.“

Hörstoff zum Todestag

Anlässlich des 50.Todesjahres von Fritz Wunderlich haben die Plattenlabels noch einmal ihre Archive durchgegraben und liefern zum Gedenken an den Jahrhunderttenor den passenden Hörstoff: die Deutsche Grammophon protzt mit gleich 32 CDs in einer Box, ihre kompletten Studio-Aufnahmen sind darauf versammelt. Falls der Plattenschrank schon zu voll oder das Portemonnaie zu leer ist, sei aus dieser Fülle zweierlei empfohlen: für die leichte Muse die populäre CD „Du bist die Welt für mich“, für den Tiefsinn Schuberts „Die Schöne Müllerin" mit Hubert Giesen.
Warner Classic präsentiert ebenfalls eine Box, belässt es dabei aber bei nur 3 CDs. Ein echter Pluspunkt dafür: eine großartige „Ombra mai fù“-Aufnahme ist dabei, endlich einmal in italienischer Sprache (nicht in deutscher Übersetzung, wie damals leider üblich).
Kleine Zugabe: Der Bayerische Rundfunk präsentiert ab dem 30. September bislang unveröffentlichte Schlager aus Operette und Film, es wird geschmachtet und geseufzt am laufenden Band.


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Fritz Wunderlich – Sämtliche Studioaufnahmen für Deutsche Grammophon

Deutsche Grammophon Gesellschaft


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Fritz Wunderlich - Die Tenor-Legende

Warner Classics


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Fritz Wunderlich: Great Singers Live

BR-Klassik/Naxos

© Atelier Fayer/Warner Classics
© iClassical/flickr.com/CC BY 2.0


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