Von Peter Steinert, 21.11.2019

Kurzer Prozess

Steve Reich zeigt mit seiner „Phase Music“ und seinem eigenen Musikverständnis eine neue Art des Komponierens. Heraus kommt ein Musikstück, das sich scheinbar selbst erfindet. Es stellt sich die Frage: Kann man Musik auch als Prozess wahrnehmen?

Ob Sätze einer Sonate, Kontrapunkt einer Fuge oder auch der immer wiederkehrende Refrain des nervigen Radiosongs: Zu einem Musikstück gehört einfach eine klare Form. Sie gibt uns Halt und Orientierung. Bei einer Beethoven-Sinfonie sind das Exposition, Durchführung, Reprise und Coda. Ein Stück braucht schließlich eine ordentliche Struktur und einen klaren Spannungsbogen. So möchte man zumindest meinen.

Davon völlig losgelöst zeigt sich die minimalistische „Phase Music“. Im deutlichen Gegensatz zur herkömmlichen Kompositionsweise wird hier das Notenbild auf einen einzigen Takt 89 reduziert, auf eine Phase, die dann fortgehend wiederholt wird. Dies passiert allerdings nicht einstimmig (das wäre denkbar langweilig), sondern auf zwei Instrumenten gleichzeitig. Während der erste Spieler das Pattern konstant im braven Etüden-Stil hält, spielt der zweite Spieler in einem minimal schnellerem Tempo. Dabei arbeitet er sich im Pattern von Note zu Note übergreifend immer weiter nach vorne. Zuerst nur leicht, später dann radikal, entwickelt sich so das Unisono 111 vom Anfang zu einem vermischten Notensalat, bis der zweite Spieler die Phase des Ersten schließlich komplett durchlaufen hat und wieder im Unisono ankommt. Diesen Prozess nennt man Phasenverschiebung oder eben auf Englisch: Phasing.

  1. Ordnung muss ja schließlich sein! Der kleinste Raum eines Musikstückes ist der Takt, er hat eine gewisse Anzahl von Schlägen und will komplett gefüllt sein, egal ob mit Noten oder mit Pausen. Und es gehört eine Portion Mathematik dazu, weil die Taktart als Bruch mit Zähler und Nenner vorgeschrieben wird. 3/4: mh da da, mh da da ... (CW)

  2. Sing it all together, im Einklang – unisono. So steht es in der Partitur, wenn alle Chor- oder Orchestermitglieder plötzlich aus dem vielstimmigen Akkordgerüst ausbrechen und gemeinsam dieselbe Melodie vortragen. Es entsteht eine musikalische Urkraft, die einem kleine Schauer über den Rücken jagt – der Hymnen-Effekt. (AJ)

Inspiriert von Terry Rileys Arbeit mit sich wiederholenden Aufnahmen von magnetischen Tonbändern, nutzte der amerikanische Komponist Steve Reich diese Phasing-Technik zum Komponieren. So entstanden die Werke „It’s Gonna Rain“ und „Come Out“, die allerdings noch ausschließlich Tonaufnahmen verarbeiteten und nicht Pattern von tatsächlichen Instrumenten. 1967 kam dann mit dem Stück „Piano Phase“ Reichs erste Phasing-Komposition für die Live-Bühne. Drei unterschiedliche Pattern jagt der „Pionier der Minimal Music“ dabei in seinem Werk für zwei Klaviere durch den Phasen-Kreislauf.



Auf der Reise der Phasenverschiebung entstehen die unterschiedlichsten Klang-Konstrukte. Töne, Melodie und Rhythmus der Spieler bleiben zwar identisch, doch begegnen sie sich konstant in unterschiedlichen Kombinationen. Unseren Ohren, verwöhnt von rhythmisch klaren Stücken, mag dieses Experiment zwar zunächst mindestens anstrengend vorkommen – zu durcheinander wirkt dieser Haufen an Noten, Melodien und unrhythmischen Dissonanzen. Doch lässt man der „Phasenmusik“ genug Zeit sich zu entwickeln, beweist sie sich als verrückter automatischer Baukasten mit geradezu endlosen Ideen und Kombinationsmöglichkeiten. Fast magisch ist es, wie aus sich selbst immer neue Motive und Melodien, Klangfarben und Räume aufblühen. Der Hörer wird dabei durch das eingängige Tempo und die abstrakten Sphären der minimalistischen Musik in einen nahezu meditativen Trance-Zustand versetzt.



Wenn man über Phasenverschiebung spricht, kommt man um das Phänomen der „Process Music“ nicht herum. Steve Reich sagte dazu:

„I want to be able to hear the process happening throughout the sounding music. [...] What I am interested in is a compositional process and a sounding music that are one and the same thing“

Der Hörer lauscht bei solch einer Musik also keinem durchkomponierten Stück, sondern einem Werk, das während des Spielens aus sich selbst heraus entsteht. Dabei kann dieser Prozess, je nach Ausführung, auch immer etwas anders klingen.

Auch die musikalische Komplexität muss man bei dieser Kunstform natürlich aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Einerseits wäre da die Sicht auf die Komposition. Sie tritt in komplett anderer Form auf als etwa bei einer Bach-Fuge oder eben der Beethoven-Sinfonie. Vielmehr geht es um die Idee des selbstlaufenden Prozesses. Andererseits muss man den Blick auf die ausführenden Künstler werfen, die auf der Bühne ein sehr hohes Maß an Tempo- und Rhythmussicherheit unter Beweis stellen müssen. Ein unglaublicher Grad an Konzentration ist gefragt; ein Fehler und der stetige Anstieg im Phasenzyklus ist unterbrochen und die Wirkung des Stücks dahin.

Umso beeindruckender wirkt die Leistung von Pianist Rob Kovacs. Er spielte Reichs „Piano Phase“ 2004 zum ersten Mal im Alleingang. An zwei Flügeln nahm er gleichzeitig die Rolle des konstant bleibenden Pianisten, sowie die des voranschreitenden Spielers ein. Ein unvorstellbarer Akt der Tempobeherrschung und Konzentration.



© Pixabay


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