Von Peter Steinert, 13.02.2020

Ein Tag im Winter

Die dunkle Jahreszeit? Oder bringt der Winter endlich Raum für Ruhe und Gemütlichkeit? Eine Playlist, die durch die kalten und warmen Stunden eines Wintertages führt.

Der deutsche Winter ist ungemütlich. Es ist grau, es nieselt und stürmt, die Nässe kriecht in jede Faser, man geht im Dunkeln aus dem Haus und kommt abends wieder im Dunkeln zurück. Das kann bedrückend sein. Durch die trüben Tage trägt Musik, die die Starre umspielt und verarbeitet.

Das beginnt schon am Morgen. Der Wecker spielt die ersten Töne von „Hedron“, einem Song der kanadischen Instrumental-Band BADBADNOTGOOD, und sofort malt das Vibrafon Bilder von klirrenden Eiszapfen in die Luft. Dieser Eindruck schmilzt jedoch schnell durch die ruhigen Töne von Klavier und Bass zu einem gemütlich treibenden Rinnsal, das erst mit der Zeit durch Schlagzeug und Bass wieder an Größe gewinnt.

Eine ähnliche Sicherheit geben die Chorstücke „Aller Augen warten auf dich, Herre“ von Heinrich Schütz und der erste Einzelsatz „Jesu, meine Freude“ aus Johann Sebastian Bachs gleichnamiger Motette. Die Gesangsstimmen greifen so gut ineinander, dass sie wie ein Zauber wirken: Das harmonische Gerüst der Stimmen schafft Geborgenheit, jegliche Kälte von außen prallt daran ab.

Wie Kinder, die durch herabfallende Schneeflocken rennen, schlicht glücklich darüber, dass etwas so Simples so schön sein kann.

Doch natürlich gibt es auch für die Kälte die passenden Klänge. Auf meinem Weg zur Uni höre ich „Reflets dans l‘eau“. Claude Debussy beschreibt darin im verträumt impressionistischen Stil Spiegelungen auf dem Wasser. Ich komme an einem kleinen See vorbei, und wie die bleiche Wintersonne lassen Debussys schnelle Klavierglissaden heute nicht die Wasseroberfläche, sondern die Eisdecke glitzern, die über dem See liegt. Bachs schmerzvolles „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (Nr. 5 BWV 639) dagegen beklagt die Winter-Melancholie, in der es nichts als kahle Bäume und Felder gibt. Doch auch die Winter-Sätze aus Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ dürfen nicht vergessen werden. Am liebsten habe ich den ersten Satz Allegro non molto, in dem die Solo-Geige durch hohe Tonlagen wirbelt wie eine Schneeböe. Mal mit zittrig abgehackten Trillern, mal mit fein aneinandergereihten Dissonanzen. Das darauffolgende Allegro aus Vivaldis Doppelkonzert für zwei Violinen in a-Moll macht das Schneegestöber sogar noch ein Stückchen lebendiger, fast schon lustig. Die beiden Geigen wollen einfach nicht zur Ruhe kommen, treiben ihre verspielten Melodien immer weiter voran. Wie Kinder, die durch herabfallende Schneeflocken rennen, schlicht glücklich darüber, dass etwas so Simples so schön sein kann. Nach all der Kälte wärmt anschließend die Interpretation von „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ von Richard Thompson, Mirage und ihrem Jazz-Ensemble bei einer Tasse heißem Kakao wieder auf.



Nachmittags auf der Zugfahrt nach Hause höre ich im frühen Sonnenuntergang Yussef Dayes und Alfa Mists „Blacked Out“. Nach einem langen Intro, in dem das Schlagzeug geradezu ungeduldig darauf wartet, endlich loslegen zu können, fliegt die dunkle Landschaft zu der repetitiven und fließenden Kraft von Bass, Schlagzeug und Keyboard an mir vorbei und es scheint, als würde der Zug allein durch den nach vorne treibenden Charakter des Stücks fahren. Am Ende angelangt bin ich bereit für Bon Ivers „715 – CRΣΣKS“. Das Lied von Projektgründer und Frontmann Justin Vernon ist die Indie-Hymne der einsamen (Winter-)Stunden. Zu hören ist dabei nur seine Stimme, die durch ein eigens erfundenes Software-Instrument seines Toningenieurs in Echtzeit bearbeitet wird. Durch ihre Mehrstimmigkeit und den roboterartigen Klang öffnet sie so völlig unbekannte harmonische Räume und erzeugt ein einzigartiges Klangbild, das den Hörer alles andere vergessen lässt. Ein Klangexperiment, auf das man sich einlassen muss. Doch wirkt die emotionale Tiefe durch Vernons ausdrucksstarke Stimme trotz allem unglaublich menschlich.

Am Abend, wenn Minusgrade die Außenwelt unerträglich machen, bleibt nur noch, sich an den schwebenden Streichern in „Then“ der Berliner Band Fewjar zu wärmen, bevor Eric Whitacre mit dem wohl schönsten Schlaflied den Tag beendet. Das Chorstück „Sleep“ wird gerne als „neo-impressionistisch“ bezeichnet und imponiert durch seinen achtstimmigen Satz. Die neuartige Harmonik strahlt vor allem durch ihre vielen Dissonanzen, die eine unglaubliche Schönheit in sich tragen. Da kann die Nacht gar nicht zu kalt werden.

© Tim Gouw / Unsplash


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